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Ein Plädoyer für eine Verbindung von Aktivismus und Spiritualität (2003)

In der Theorie glauben wir alle nicht an die Trennung von Geist und Materie, aber in der Praxis neigen wir immer noch dazu zu glauben, dass Dinge, die zu materiell, zu lebensnah sind, irgendwie nicht wirklich spirituell sein können. So hat für uns zum Beispiel eine Trancereise ins Feenland etwas Spirituelles an sich, nicht aber eine Reise zu einer brasilianischen Favela (=Elendsquartier in südamerikanischen Großstädten). Wir können uns darüber streiten, ob es ein Feenland gibt, doch die Favelas gibt es in der Tat. Wenn wir wirklich daran glauben, dass unsere Spiritualität etwas mit dem engen Verbundensein der Menschen untereinander zu tun hat, dann ist es unter Umständen wichtiger für uns, uns innerlich mit der Wirklichkeit der Favelas auseinander zu setzen als mit den Feen zu tanzen.

Natürlich fühlen wir uns immer gut, wenn wir Feen visualisieren, wohingegen der Gedanke an Slums, Kriege und internationale Handelsverträge uns oft ein unangenehmes Gefühl beschert. Oder wir empfinden Ärger, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit. Vielleicht sogar Schuld?

Ein Großteil unserer Magie und Arbeit für die Gemeinschaft hat damit zu tun, Zufluchtsorte aus einer harten, oft feindlichen Umwelt zu schaffen, sichere Plätze, an denen Menschen wieder heil werden und sich erneuern können, wo sie Kräfte sammeln und neue Fertigkeiten erlernen. Bei dieser Arbeit versuchen wir Gefühle von Schuld, Wut und Frust erst einmal hervorkommen zu lassen, um sie dann in positive Empfindungen umzuwandeln.

Sicherheit, Zuflucht und Heilung sind wichtige Aspekte der spirituellen Gemeinschaft. Aber sie allein machen Spiritualität nicht aus. Wohlbefinden allein ist nicht der Maßstab, den wir an unsere spirituelle Arbeit anlegen sollten. Das Ritual kann sich nicht erschöpfen in der Beruhigung unseres Selbst. Spiritualität hat auch mit Herausforderung und Störung der Routine zu tun, mit dem An-unsere-Grenzen-Gehen und der Hilfe, die wir brauchen, um große Risiken einzugehen. Die Göttin ist nicht nur die zarte, fröhliche Maid oder die nährende Mutter. Sie ist Tod und Geburt, Dunkelheit und Licht, Wut und Mitgefühl zugleich. Und wenn wir vor ihrer wilderen Umarmung zurückschrecken, untergraben wir ihre Kraft und unser eigenes Wachstum.

Es gibt Zeiten, da absolutes Wohlbefinden sich nicht ziemt. Wir befinden uns gerade in einer solchen. Wie heißt doch das Sprichwort? – „If you aren’t angry, you aren’t paying attention“ (etwa: „Keine Aufmerksamkeit ohne Wut“).

Damit will ich nicht sagen, dass wir immerfort wütend oder gereizt sein oder uns anhaltend schuldig fühlen sollen. Ich will vielmehr sagen, dass wir unsere magischen Mittel dazu verwenden müssen, uns klar und deutlich mit den erdrückenden Realitäten auf dieser Erde auseinander zu setzen, unsere Gefühle ernst zu nehmen und sie in die Energie umzusetzen, die wir für einen Wandel brauchen.

Im vergangenen Herbst vor dem Spiraltanz (Samhain Ritual in San Francisco) erhielten wir einen Brief, in dem die Schreiberin eine Aktion vom Jahr zuvor scharf kritisierte. Wir hatten damals eine Art von Scheinkundgebung veranstaltet, um das Wasser anzurufen. Wir hatten einen Fluss geschaffen aus Tüchern und Chants, die so begannen: „No FTAA, No WTO, No Privatizing, Let the river flow!“ (etwa: „Keine FTAA, keine WTO, keine Privatisierung, lasst den Fluss in Ruh!“/ FTAA= Free Trade Association of the Americas = Amerikanische Freihandelszone; WTO = World Trade Organisation = Welthandelsorganisation). Die Schreiberin hatte etwas dagegen, dass wir aus dem Ritual eine „komische Veranstaltung“ gemacht hatten.

Ich habe nie die Zeit gefunden ihren Brief zu beantworten, aber ich war der Schreiberin dankbar, weil sie mich zum Nachdenken brachte. Jede/r hat das Recht auf eine eigene Meinung Rituale betreffend und auf eigene ästhetische Vorstellungen. Im Allgemeinen gibt es in jedem Ritual mindestens eine Anrufung, auf die ich persönlich durchaus verzichten könnte. Aber, was mich an diesem Brief besonders interessierte, war die unausgesprochene Annahme der Schreiberin, dass ein Problem wie das der Privatisierung des Wassers ein irgendwie fremdes Element sei und nicht wirklich zu einem Ritual gehöre, es sogar zu etwas ganz anderem mache.

Diejenigen unter uns, die diese Anrufung erdacht hatten, halten die Privatisierung von Wasser für ein zutiefst spirituelles Problem. Weil das Wasser, das wir für heilig halten, nicht ein abstraktes Bild oder eine Imagination von Wasser ist, sondern das Wasser, das wir zum Trinken brauchen, zum Baden und für das Wachstum in unseren Gärten. Dieses Wasser stellt außerdem den ausschließlichen Lebensraum dar von Fischen und vielen Pflanzen und von Tausenden anderer Lebewesen. Und es ist der eigentliche Lebenssaft der Erde.

Wenn zwei Drittel der Erdenbewohner in ein oder zwei Jahrzehnten möglicherweise keinen Zugang haben werden zu dem Wasser, das sie brauchen, und ich ganz eng mit ihnen verbunden bin, dann handelt es sich dabei um eine spirituelle und eine physische und politische Krise. Und wenn ich mich schon seit langem für dieses Problem engagiere, in politischen und magischen Aktionen (wir waren bei vielen Aktionen überall auf der Welt dabei, die sich gegen weltweite Handelsvereinbarungen richteten, die die Übernahme der Wasservorräte auf unserem Planeten durch Großkonzerne fördern), dann brauche ich meine Rituale, um den Kampf zu reflektieren und meiner Arbeit die nötige Energie zuzuführen.

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