Victoria
Victoria, Jahrgang 1971, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Göttingen und forscht über Hexen. Sie sucht jedoch nicht den distanzierten Blick durch das Mikroskop, sondern um zu verstehen, was Spiritualität für (Reclaiming-)Hexen bedeutet, taucht sie selbst darin ein. In der Hexenreligion kann es die Position einer passiven Beobachterin nicht geben. Und da Reclaiming eine integrierende Tradition ist, hat auch Victoria in der Gruppe Berlin-Brandenburg ihren eigenen Platz gefunden. Sie lebt mit ihrem Partner und den gemeinsamen drei Kindern in Berlin. Mehr zu ihren wissenschaftlichen Arbeiten findet man hier.
Das folgende Interview wurde am 25. August 2014 mit ihr geführt.
1. Wie hast du zu Reclaiming gefunden? Wie sah dein vorheriger spiritueller Weg aus?
Ich beschäftige mich mit der neuheidnischen Hexenreligion beruflich, was meint, dass ich eine postdoc-Forschung (also eine Forschung nach der Promotion) hierzu durchführe, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird und die an der Uni Göttingen an dem Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie angelagert ist. Ich hoffe darüber meine Habilitation zu schreiben (Abgabe: wenn denn alles gut geht :), oh je, 2015, Juni)
Bevor ich auf Reclaiming, genauer auf die deutsche, und noch genauer auf die Berliner Dependance gestoßen bin, habe ich sehr viel gelesen. Erst Gardner (gilt ja als Stifter der Hexenreligion – hier Wicca), dann viel zur feministischen Spiritualität und darüber, wie die Hexenreligion von England aus in die USA kam und dort feministisch gewendet wurde – hier war dann ein Name ganz wichtig: Starhawk (na klar). Hat mich sehr fasziniert. Wollte dann noch mehr darüber wissen und konnte dann in die USA zu so einer Hexenconvention fahren, um dort Leute zu interviewen. Dort traf ich auch auf Starhawk (die habe ich aber nicht interviewt) und habe einen Workshop mitgemacht über kommunikative Strukturen im Reclaiming. Sie war einfach toll und vor allem total unprätentiös. Hat mich beeindruckt, da ja gerade Leute, die als BegründerIn von etwas gelten soviel Bewunderung zuteil wird, dass sie meist doch „Höhenflüge“ haben (ein wenig ist das so bei Z. Budapest – ich habe sie kurz kennengelernt und sie war so derart von sich selbst beeindruckt und hat kaum eine andere als ihre Meinung zugelassen – hat mich sehr abgeschreckt, sodass ich Dianic Wicca sehr kritisch gegenüberstehe).
Ich durfte auch (ich weiß es klingt wie name droping, aber ich muss es sagen, weil ich hin und weg und sehr beeindruckt war) Margot Adler kennen lernen. Das ist auch eine so tolle Frau gewesen: nett, offen, lustig! Sie hatte wirklich sehr viel Humor – und sie war auch so klug, ihr Buch über witchcraft in den USA ist großartig … und wie sie ihren Vortrag über Vampire gehalten hat: ich habe mich selten so unterhalten gefühlt. Schade, dass sie von uns gegangen ist. Sie war eine unglaubliche Frau.
Zurück in Berlin dachte ich – diese Richtung der Hexenreligion mit solchen Leuten wie Starkhawk – das würde ich sehr gerne in meine Forschung aufnehmen. Was mich annähert ist der feministische Zugang, der gut durch die Genderstudies informiert ist: also alle möglichen Spielarten von Geschlecht und Sexualität sind zugelassen und gleich legitim. Hierarchien werden versucht flach zu halten. Jede ist Priesterin und Lernende zugleich – ein Konzept das sehr von den etablierten Religionen abweicht – wo es die „Experten“ (eben meist Männer) und die „Laien“ gibt. In Reclaiming sind alle ExpertInnen ihrer Religion – das gefällt mir.
Das beantwortet dann wahrscheinlich schon die nächsten zwei Fragen.
Spirituell ist Reclaiming für mich sehr interessant, aber es ist nicht meine Spiritualität. Nicht, weil ich eine „andere“ Spiritualität hätte, sondern weil ich doch – und ich kann es einfach nicht ändern – mir die Welt anders – eher nicht spirituell – erkläre: durch eine konstruktivistische Linse: Die Menschen konstruieren sich den Lebenssinn und dies findet sich in verschiedensten religiösen Weltsichten ausgedrückt. Ich glaube nicht an eine göttliche Kraft/Energie, die alles durchdringt und alles miteinander verwebt – so, dass letztlich nicht alles zufällig ist sondern einem höheren Sinn folgt.
Meine Sicht ist, dass das Leben letztlich und per se keinen Sinn macht 🙂 (wir machen ihn uns eben beispielsweise – und das meine ich ganz positiv – indem wir an eine Göttin glauben, an eine universelle Kraft, an Feen … ). Ich sehe das Leben eher in Allegorie zu Sysyphos – diesem Typ in der griechischen Mythologie, der versuchte die Götter und Göttinnen zu überlisten, um dem Tod zu entgehen, und als die Götter/Göttinnen merkten: hey, da stimmt was nicht, da haben sie ihm zur Strafe auferlegt auf ewig einen Stein den Berg hochzurollern, der dann runterrollert und Sysyphos ihn wieder raufrollern muss: so sehe ich das Leben – wie diesen Stein hochrollern/hinunterrollern: ohne Sinn – und es liegt an uns, die Schönheit darin zu erkennen, glücklich werden und das Beste daraus zu machen. Jede Erklärung, die dazu beiträgt, dass es so wird, ist toll (ausgeschlossen diejenigen, die gegen Menschenrechte verstoßen – aber kann man dann die Schönheit erkennen?)
2. Warum bist du bei Reclaiming geblieben?
Ich bin dabei geblieben, weil ich es verstehen möchte, zumindest versuche ich es, und das heißt mitmachen, sich darauf einlassen. Ich entdecke immer neue interessante Facetten, die ich begreifen möchte … und ich finde die Leute richtig nett, interessant – einige sind meine Freunde geworden und ich habe sie sehr ins Herz geschlossen.
3a. Welche Rolle spielt die Spiritualität in deinem täglichen Leben?
Ich beschäftige mich durch die Wissenschaft damit und das dann täglich. Mich fasziniert an fast jeglicher Art von Spiritualität die vielen Möglichkeiten, die entwickelt wurden, sich die Welt zu erklären und wieviel Wissen, Perspektiven dahinter stecken.
Selbst würde ich mich nicht als spirituell bezeichnen. Ich finde Spiritualität und hier wie sie von Reclaiming in unterschiedlichster Form praktiziert wird, faszinierend, nicht weil ich „auf der Suche“ bin, sondern weil mich an sich Menschen interessieren.
3b. Wie verbindest du Reclaiming mit deinem Alltag?
Nur insofern, als dass mir durch Reclaiming nochmals bewusst geworden ist, wie sehr man täglich versuchen sollte, Menschen vorurteilsfrei zu begegnen (was ja leider nie klappt) und zu schauen – was kann ich von ihm/ihr lernen, was ist das Schöne an ihm/ihr.
Ja, und auch nochmals bewusster mit den natürlichen Ressourcen umzugehen und einfach auch die Schönheit der Natur an sich zu erkennen.
Ich verfolge keine weiteren spirituellen Praktiken.
4. Welchen Platz hast du in der Reclaiming Gemeinschaft? Wie hast du ihn gefunden bzw. bist hineingewachsen?
In der Gruppe in Berlin bin ich „die Forscherin“ und als solche genauso involviert wie alle anderen auch. Ich kenne daher auch die einzelnen Leute mit ihren „Wegen“ zu Reclaiming, ihre Weltsichten durch Interviews und das schafft große Nähe. Gefunden habe ich die Gruppe letztlich durch das Internet und über die Jahre bin ich – so würde ich es sagen – auch Teil davon geworden – eben in der Rolle der „Forscherin“.
5. Was sind deine Wünsche und Träume in Hinblick auf Reclaiming für die Zukunft?
Hm, das ist schwierig. Ich würde mir mit Blick auf Reclaiming wünschen, dass die hier anzutreffende Weltsicht, die so – zumindest versuchsweise – enthierarchisiert gedacht wird, diese Utopie einer Welt in Balance – verwirklicht wird.