Interview mit Starhawk (2000)
Christel: Das Heidentum ist, seiner Definition nach, eine spirituelle Bewegung, die sehr eng mit der uns umgebenden Natur verbunden ist und mit dem Schicksal der Erde, auf der wir alle -Heiden und Nichtheiden- leben. Warum zeigen -Deiner Einschätzung nach- viele Heiden kein Interesse an Themen wie Ökologie, die unter anderem sehr eng mit dem Feminismus verbunden ist und konzentrieren sich ausschließlich auf andere Fragen? Du hast dich immer sehr für diese Dinge engagiert. Dein sehr interessanter Bericht über Deine Erfahrungen bei der WTO ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Teilst Du meine Kritik oder denkst Du sie ist zu pessimistisch oder zu weit von der Wahrheit entfernt?
Starhawk: Ich muss die Frage wahrscheinlich herumdrehen und sagen: Zunächst einmal komme ich aus einer Gruppe von Leuten, die sich von jeher für Ökologie und
Feminismus interessierten und politisch aktiv waren. Ich weiß nicht, warum es Heiden gibt, die das nicht sind, die Leute, mit denen ich arbeite, sind es jedenfalls sehr, und vielleicht kann ich ja ein bisschen über einige der Dinge reden, die uns schon lange beschäftigen. Wir kommen aus der Antiatombewegung der 80er Jahre, und unser Aktionsradius reicht von feministischen Fragen über die Gleichstellung von Schwulen und Lesben bis hin zu Umweltfragen: Arbeit für die Erhaltung des Waldes zum Beispiel. Die hatte vor allem mit den Mammutbaumwäldern in Kalifornien zu tun, und nicht nur Reclaiming hatte damit zu tun, sondern auch andere heidnische Gruppen, besonders die Church of All Worlds. Viele Leute haben sich mit der Sauberhaltung von Quellflüssen beschäftigt, und kürzlich war natürlich eine ganze Gruppe von uns bei der WTO. Einige der Hauptorganisatoren der WTO Aktionen in Seattle waren Heiden oder doch zumindest beeinflusst von der politischen Kultur in San Francisco, die jahrelang von einer Art heidnischen Einstellung geprägt worden war. Diese besagt, dass Demonstrationen und politische Arbeit Vision und Kunst, Masken und Kostüme einschließen sollten. Für uns sind Demonstrationen so etwas wie Rituale, nicht nur das übliche langweilige „Jeder brüllt“, und ich glaube all das hat es in Seattle gegeben, unendlich viel Phantasie war da im Spiel; neben Kämpfen mit der Polizei gab es Riesenpuppen, Kostüme und Tänzer zu sehen. Wir konnten eine ganze Menge von Magie und Ritual einbringen. Ich war fünf Tage lang im Gefängnis, und wir haben dort Rituale gefeiert. Andere Frauen von Reclaiming waren auch da. Wir wurden in kleine Gruppen aufgeteilt. Nur sehr wenige von uns waren beisammen. Trotzdem haben wir es fertiggebracht in jeder unserer Gruppen Magie zu zelebrieren oder magischen Aktivismus zu lehren. Wir haben auch den Spiraltanz im Gefängnis getanzt.
Christel: „Wie viele Frauen haben sich eine Zelle geteilt?“
Starhawk: Sie hatten Zellenblöcke, in die ungefähr 20 Frauen gingen. Alles in allem hatten sie zwischen 300 und 400 Frauen in Arrest
genommen. Sie haben uns in ganz unterschiedliche Gruppen gesteckt und uns immer wieder verlegt. An einem Tag waren wir in einer Gruppe von 50 oder 60
Frauen, dann wieder in kleineren Gruppen. Später haben wir dann eine Reihe von Gruppen mit ähnlichen Zielen zu einer großen Gruppe von Heiden
zusammengefasst und haben uns an den Aktionen gegen den IMF und die Weltbank in Washington D.C. beteiligt. Wir konnten dort unheimlich viel trainieren, auch magischen Aktivismus. Und wir haben jetzt eine Liste von interessierten Leuten, auf nationaler und auf internationaler Ebene, die an dieser Art von
Aktionen teilnehmen wollen, die Magie und Aktivismus miteinander verbinden.
Die Reclaiming Website bietet viele Möglichkeiten dafür. Sie lautet www.reclaiming.org. Interessierte können sich einklicken: es gibt Diskussionen, und einige von uns werden zu den Wahlversammlungen der Republikaner und der Demokraten gehen, und andere werden diesen Sommer in Europa Trainings veranstalten mit Leuten, die im September in Prag dabei sein wollen. Ich würde also sagen, dass, wenn man die Anzahl der Heiden und die Vielzahl ihrer Aktionen betrachtet, Heiden sich ganz stark politisch engagieren. Ich glaube es ist so, dass viele Leute einfach nicht politisch aktiv werden wollen, ganz egal welcher Religion sie angehören. Sie denken und fühlen einfach nicht politisch. Aber wie ganz viele andere Menschen nehme auch ich die Welt als Lebewesen wahr und die Menschheit als Verkörperung der Göttin. Und das bedeutet, dass ich handeln muss in der Welt, um sie gerechter zu machen und zu versuchen die lebenden Ökosysteme der Erde zu erhalten.
Christel: In Deinem Artikel ‘Ist der Körper überholt?’ führen deine Überlegungen, die sich durch perfekte und beeindruckende Logik auszeichnen, zu einer unglaublich ansprechenden Metapher: die Erde ist gleich der Körper. In deinen Artikeln ist deine Sorge um das Schicksal unsere Mutter Erde immer zu spüren und ich bin dir dankbar, dass du die Aufmerksamkeit für dieses Problem wach hältst. An einem bestimmten Punkt kritisierst du den technischen Fortschritt, der es erlaubt, einige Körperteile durch künstliche Teile zu ersetzen und damit keinerlei Achtung für die Natur zeigt. Ich stimme mit dir überein und frage dich trotzdem: wenn die Technik dazu brächte künstliche Teile, die die Möglichkeiten unseres Körpers erweitern, in unserem Körper zu akzeptieren, und dadurch ein gewisses Interesse für den Körper ausdrückte, wie auch den Wunsch dem Körper zu helfen ohne ihn ersetzen zu wollen, wärst du in diesem Fall auch dagegen? Glaubst du nicht, dass wenn die Technik die vielen latenten physischen Möglichkeiten in uns erweiterte sie auch gut sein könnte?
Starhawk: Deine Frage den Körper betreffend ist u.a. deshalb interessant, weil genau zu der Zeit, da es bald möglich sein wird Ersatzteile für unseren Körper
herzustellen, d.h., die Möglichkeiten unseres Körpers zu erweitern, ein Stück Metall meinen Knöchel zusammenhält, weil ich ihn kurz vor dieser Tour
gebrochen habe. In der Nacht, als ich ihn brach, sagte der Arzt er müsse operieren, und als ich aufwachte, meinte er : „Ja, Sie haben Metall da
drinnen.“ Wahrscheinlich werde ich es nicht für immer haben, aber natürlich beklage ich mich nicht über die Technik, mit der mein Knöchel wieder
zusammenflickt wurde. Ohne diese Technik, oder hätte ich meinen Knöchel vor 100 Jahren gebrochen, hätte ich womöglich nie mehr richtig laufen können.
Technik kann uns wirklich dienlich sein, aber ich bin ein bisschen skeptisch was all diese Versuche betrifft den Körper zu erweitern, zu verbessern. Denn
wir kümmern uns offenbar nicht genügend um die grundlegenden Lebenserhaltungssysteme der Erde, von denen unsere Körper und der der Erde
abhängen. Und wir befassen uns nicht wirklich mit den biologischen Systemen für eine Welt, mit dem Einfluss, den wir auf sie ausüben. Das hätte für mich
tatsächlich Vorrang, bevor ich damit anfange den menschlichen Körper zu verbessern. Ich würde gerne mit der Heilung der Erde beginnen.