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Die Schlacht um die Kaffeekanne

Jenin: Juli 2002 von Starhawk

Übersetzung von Christel (Kalia e.V., München)

An dem Tag als die UN ihren Bericht über die israelische West Bank Offensive im vergangenen April veröffentlicht, liege ich in einer stickigen Wohnung in Jenin, die wir mit elf Menschen der internationalen Friedensbewegung teilen – eine Gruppe, die gewaltfreie Wege im Kampf für Gerechtigkeit in Palästina unterstützt. Wir werden um vier Uhr in der früh von Gewehrschüssen geweckt. Wir gähnen und schlafen weiter. Gewehrschüsse sind normal in Jenin.

Kurz vor Sonnenaufgang hören wir das Knirschen und Krachen von Panzern in den leeren Strassen unter unseren Fenstern. Wir schlafen weiter. Panzer sind normal in Jenin und es ist noch dunkel, zu früh um sie zu verfolgen, uns ihnen in den Weg zu stellen und die Soldaten, die im Inneren versteckt sind davon abzuhalten auf den Marktplatz zu feuern – ihre übliche Art die Ausgangssperre anzukündigen.
Um viertel nach sechs schreckt uns eine laute Explosion wieder aus den Betten. Tobias und Nicholas, die beiden jungen Männer aus Schweden, die schon den ganzen Sommer in Jenin sind, schlafen weiter, doch wir anderen stehen auf. Die Explosion ist etwas lauter und näher als sonst.
Ein Gebäude um die Ecke ist in die Luft gejagt worden, acht Familien sind obdachlos, sechs Läden zerstört und weitere beschädigt. Wir gehen hinüber um zu filmen und Interviews zu machen, zu bezeugen. Von den Wohnungen ist nur ein Streifen Fußboden übrig geblieben, der am Rest einer Wand hängt. Die Muster der Zimmer werden offen gelegt wie ein groteskes Puppenhaus. Ich schau in die Küche wo das Geschirr immer noch trocknet. Im Badezimmer nebenan ist das Waschbecken noch intakt. Ich mir gut vorstellen wie die Zahnbürsten darauf warten, benutzt zu werden.

Ein grüner eingetopfter Baum klammert sich an die Bruchstücke eines Balkons. Eine Tür öffnet sich im dritten Stockwerk des zerstörten Wohnhauses: ein Mann starrt in das, was einmal sein Wohnzimmer war. Jetzt ist es in leeren Raum gesprengt. Darunter angeln zwei Jungen durch einen Spalt nach ihren Kleidern. Ein alter Mann sucht seinen Weg durch das zerstörte Treppenhaus um einige Waren aus seinem Laden zu bergen. Auf der Strasse stehen mitfühlende Zuschauer. Ein Mann stellt eine Kaffeekanne aus Messing auf einen kleinen Tisch und bietet arabischen Kaffee an.
Die acht Familien, die in dem überfüllten Wohnblock lebten, waren Flüchtlinge aus dem Jenin Lager, wo ihre Häuser unter den 450 waren, die im Angriff vom April zerstört wurden. 4 Tage und Nächte lang beschossen die israelischen Verteidigungskräfte das Lager, umzingelten es und verhafteten die Männer, vertrieben Menschen aus ihren Häusern im Mittelpunkt des Lagers und planierten ihre Häuser zu Nichts.

3 Monate später, gehen wir durch den “Bereich der totalen Zerstörung“, ein Gebiet von der Größe eines Fußballplatzes, mit Schutt in einer Höhe von 2-3 Stockwerken. Das ist Zerstörung von geologischen Ausmaßen, tektonische Zerstörung, die Berge erschafft.

Irgendwo darunter liegt das Hab und Gut von acht Familien, die ihr Zuhause heute verloren haben. Beweise des alltäglichen Lebens finden sich immer noch zwischen den Klumpen Beton und den verbogenen Balken. Ein Fetzen geblümten Stoffes, der Lenker eines Fahrrades, ein Sofa, das in der Luft schwebt. Die Hand einer Puppe, die abgetrennt auf dem Weg liegt, lässt uns erschaudern.

Die Zerstörung wurde in solch einer Hast durchgeführt, dass nicht alle aus den Gebäuden evakuiert werden konnten. Kinder wurden zermalmt, alte Menschen eingeschlossen. Als die Armee Familien zurückkehren lässt suchen sie völlig außer sich die Ruinen ab. Einige wenige Überlebende, die unter den Ruinen eingeschlossen waren hatten noch Handy-Kontakt mit ihren Familien, bis die Batterien leer waren.

Die Armee weigerte sich Such- und Rettungsteams hereinzulassen – verzweifelte Väter und gequälte Mütter graben sich mit bloßen Händen durch den Beton. Die Armee weigerte sich Krankenwagen hereinzulassen – einige der Verwundeten verbluteten. Panzer fuhren auf den Ruinen hin und her, vermischten Knochen, Fleisch und Beton zu einer Masse des Todes, so dass, als Suchtrupps endlich hereingelassen wurden, der Gestank so allgegenwärtig war, dass sogar die Hunde die Lage einzelner Körper nicht mehr unterscheiden konnten. Trotz allem fanden die Suchenden Überreste: einen abgetrennten Finger, den Arm eines Säuglings, den Zopf eines Mädchens.
Die UN hat niemals ihren Untersuchungsausschuss nach Jenin gesandt. Die Israelis lehnten einfach die Zusammenarbeit ab und Khofi Annan hat sie nie wirklich dazu aufgefordert. So wurde der UN Report, der den Begriff Massaker vorsichtig vermeidet, aus Berichten aus dem Internet und anderen Berichten von Einzelnen zusammengestellt. Weder wurden die Ruinen untersucht noch die Überlebenden befragt. Nie haben sie mit dem wohlwollenden Mann gesprochen, dessen Frau uns Tee anbot während er beschrieb wie er die verstreuten Körperteile seines Bruders sammelte um sie zu begraben. Sie haben nie die Gebete des Vaters gehört, die er über dem geschwärzten Körper seiner Tochter stammelte.
Jetzt ist die totale Zerstörung normal geworden: Pfade winden sich durch die Trümmer. Kleine Jungen spielen „König der Berge“ auf den Trümmerhaufen. Wir gehen hindurch bei brennendheißen, 40 Grad. Geschäfte haben geschlossen. Ausgangssperre wird ohne erkennbares System verhängt oder aufgehoben. Die Menschen können nicht regelmäßig arbeiten. Wir wollen einen Morgen mit den Kindern verbringen, Instrumente bauen und Transparente gestalten und mit ihnen marschieren. Aber es ist Ausgangssperre und die Kinder dürfen die Häuser nicht verlassen.
Die Panzer rollen in Jenin Stadt ein; Knaben und junge Männer rennen heraus um Steine

zu werfen. Ihre Mütter sitzen in den Gassen, besuchen einander und versuchen die jüngeren Kinder davon abzuhalten sich der Gruppe von Jugendlichen anzuschließen. Ein Mann bringt eine Kaffeekanne heraus. Wir trinken arabischen Kaffee während wir Gewehrfeuer hören. Ein großer Mann versucht mit einem langen Stock die kleinen Kinder zusammen zu treiben und in Sicherheit zu bringen. Die Panzer feuern, die Jungen laufen zurück. Am anderen Ende der Strasse hören wir die Antwort der palästinensischen Gewehre. Die Panzer kommen näher: die Kaffeekanne wird hereingeholt, die Frauen ergreifen die Stühle und begeben sich hastig in Sicherheit. Die Panzer rollen weiter: die jungen Männer folgen mit Steinen. Manchmal werden sie erschossen, aber der Tod ist normal in Jenin. Du kannst durch einen Heckenschützen sterben während du die Strasse hinuntergehst. Du kannst durch einen Querschläger sterben wenn die Panzer über die Menschenmenge auf dem Marktplatz feuern. Du kannst wegen etwas sterben, das dein Bruder, Onkel oder Cousin tat oder was die Armee vermutet das er getan hat. Du kannst durch eine Fehlreaktion eines neunzehnjährigen Soldaten sterben. Die Kaffeekanne kommt wieder heraus: die Frauen bringen die Stühle zurück.

Die Mädchen spielen auf der Strasse. Es gibt in Jenin nichts anderes zu tun wenn Ausgangssperre ist. Nirgendwo sonst können die Kinder spielen, es gibt keinen Fußball, es gibt keinen Spielplatz, kein Schwimmbad. Es gibt nur ein Spiel, ein Thema, nur eines zu tun, einen Film: Besetzung. Alle Läden sind geschlossen, der Markt ist den ganzen Tag leer. Die Panzer fahren und die jungen Männer folgen ihnen, wie Krähen einem Müllauto. „Geht nach Hause, ihr Bastarde!” brüllen die israelischen Soldaten in drei Sprachen. „Was sollen wir tun?“ fragt einer der älteren Jugendlichen. „Wir können sie nicht einfach vorbeiziehen lassen ohne etwas zu tun, auch wenn es nur Steine werfen ist!“ Er ist Kunststudent erzählt er uns. Er würde gerne reisen, die großen europäischen Museen besuchen. Er geht auf die Universität, die momentan wegen der Ausgangssperre geschlossen ist. Er entschuldigt sich für die jüngeren „Ich hoffe, dass sie Euch nicht belästigen“, sagt er „sie bekommen nicht so viele Fremde zu sehen.“
Der UN Report bestätigt, dass der schwere Raketenbeschuss und der Einsatz von Kampfhubschraubern im dicht besiedelten Lager unverhältnismäßig war. Er bestätigt 52 Tote. Was er nicht bestätigt ist der Tod der Hoffnung dadurch dass Gewehre, Panzer und tägliche Demütigungen normal werden. Und was die UN Beobachter niemals sahen, weil sie niemals in Jenin waren, ist die wahre Stärke, die Fähigkeit ein Stückchen normales Leben am Rand der Ruinen wiederherzustellen, einen Weg durch den Schutt zu bahnen und weiterzumachen. Denn letzten Endes geht es bei diesem Kampf nicht darum wer die größeren Gewehre hat. Es ist ein Kampf der Panzer, der Raketen, der Planierraupen und F16-Kampfflugzeuge gegen die Kaffeekannen, die Besuche der Frauen, die Kinder mit ihren Spielen, den Feigenbaum, der in den Ruinen Wurzeln schlägt. „Geht nach Hause, ihr Bastarde!“ brüllen die Soldaten durch ihr Megaphon, doch die Menschen in Jenin sind schon zuhause.

 

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