Der Junge, der den Soldaten küsste: Das Balata Lager
„Du erstaunst mich,“ sage ich zu Hanin, „ich bin total erschöpft, du bist im sechsten Monat schwanger, es ist dein Haus, das gerade zu Schrott gemacht wurde und du bist in der Lage dich hinzustellen und für uns alle zu kochen!“ Hanin zuckt mit den Achseln. „Für uns ist das normal“, sagt sie. Und hier ist der Punkt, wo ich die Geschichte gerne enden lassen möchte, im Feiern der Unverwüstlichkeit dieser Frauen, voller Vertrauen in die Kraft ihr Leben immer wieder zu erneuern. Aber die Geschichte ist hier nicht zu Ende.
Die dritte Nacht. Melissa und Jessica gehen zurück zu unserer Familie. Ich bleibe bei einer anderen Familie, die um Unterstützung gebeten hat. De Soldaten haben ihr Haus drei mal durchsucht und gedroht, dass sie weiterhin jede Nacht zurückkommen werden. Wir schlafen in unseren Kleidern, sprungbereit. Wir bekommen einen Anruf.
Die Soldaten sind zu Hanins Haus zurückgekommen. Wieder sperren sie alle in ein Zimmer. Wieder durchsuchen sie. Dieses Mal ist der Soldat, der das Baby küsste nicht dabei. Sie haben den Bericht irgendeines Geheimdienstes, der sagt, dass da etwas zu finden sei, auch wenn sie nichts gefunden haben. Sie reissen die Verkleidung von den Wänden, sie schlagen Löcher in die Fliesen und in den Beton darunter. Sie zerschmettern und zerstören und als sie fertig sind pinkeln sie auf das Chaos, dass sie angerichtet haben.
Nichts wurde gefunden, doch etwas ist verloren. Die Zuflucht ist zerstört, das Haus in einen Trümmerhaufen verwandelt. Niemand küsst diese Soldaten. Niemand singt.
Als Hanin herauskommt und sieht, was sie getan haben bekommt sie einen Schock. Sie ist unverwüstlich und stark, doch dieser Überfall hat das normale Mass überschritten und sie zerbricht. Sie hyperventiliert, ihr Puls rast und ist flach. Sie könnte leicht ihr Baby verlieren oder sogar sterben. Jessica , die zur Sanitäterin bei Straßenaktionen ausgebildet ist, informiert die Soldaten, dass Hanin sofort medizinische Versorgung braucht. Den Soldaten widerstrebt das „Wir sind bald fertig,“ sagen sie, aber einer ist Sanitäter und
Melissa und Jessica können ihm den Ernst der Situation klar zu machen. Sie erlauben den beiden das Ausgehverbot zu durchbrechen, durch die dunklen Strassen zur Klinik zu rennen, mit zwei Krankenschwestern zurückzukommen, die Hanin und ihre Familie irgendwie in einen Krankenwagen schaffen und zur Klinik bringen.
Diese Geschichte könnte noch schlimmer sein. Weil Jessica und Melissa da waren überleben Hanin und das Baby. Das ist es doch warum wir gekommen sind: die Dinge nicht ganz so schlimm bleiben zu lassen wie sie sind.
Aber es gibt kein glückliches Ende für diese Geschichte, keine erfreuliche Auflösung. Als die Soldaten abgezogen sind, gehe ich zurück um Hanin, die aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist, „Aufwiedersehn“ zu sagen. Sie sieht leblos aus, niedergeschlagen, etwas ist zerbrochen. Ich weiß nicht, ob das wieder gut gemacht werden kann, ob sie jemals wieder sie selbst sein wird. Ihre Unverwüstlichkeit ist verschwunden. Ihre Augen haben ihren Glanz verloren. Sie schreibt mir ihren Namen und ihre Telefonnummer auf, schreibt „Hanin liebt Dich.“ Ich weiß nicht wie die Geschichte für sie letzendlich ausgehen wird. Ich sehe immer noch Zerstörung in den Karten, schlaflose Nächte voll Angst, Tod.
Dies ist keine Geschichte schlimmster Gräuel. Es ist eine Geschichte der „Normalität“, eine Geschichte darüber, was es bedeutet mit dem alltäglichen rücksichtslosen Angriff auf jegliche Form von Sicherheit oder Zuflucht leben zu müssen.
„Wie war das Lied über den Zug” frage ich Neta nachdem die Soldaten gegangen sind. „Hast Du nicht gehört?“ fragt sie mich. „ Die Soldaten kamen um 1.00 Uhr in der Nacht, ergriffen die alte Frau und zwangen sie das Lied zu singen. Ich denke nicht, dass ich jemals wieder imstande sein werde es zu singen.“
„Welchen Quellen kannst Du glauben um dort Frieden zu schaffen?“ schreibt eine Freundin. Ich habe keine Antwort. Jedes Lied ist verdorben, jede Geschichte zieht sich zu lang hin und wird schrecklich. Ein Junge, dessen Baby-Träume von Gewehrfeuer gestört werden, küsst einen Soldaten. Ein Soldat küsst einen Jungen und zerstört dann sein Zuhause. Oder vielleicht steht er einfach stumm dabei, während andere ihr zerstörerisches Werk tun, genauso stumm wie viele von uns viel zu lang waren. Und wenn es Kräfte gibt, die Frieden nähren können, dann müssen sie zunächst einen Aufschrei verursachen, das weit verbreitete Schweigen brechen, das Menschen dazu bringt militärischer Gewalt schweigend zuzusehen.
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