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Demonstration an der Mauer

Inzwischen befindet sich Starhawk wieder in Israel/Palästina.

Hier ein Bericht von ihr vom 19. März 2004

Übersetzung: Brigitte Hummel

Demonstration an der Mauer

Das Gefährt, ein Mittelding zwischen einem Bus und einem Sammeltaxi, kurvt durch das Hügelland hinter Ramallah auf seinem Weg nach Budrus, wo ich mich mit dem ISM (=International Solidarity Movement) Team treffen will. Wir werden an der heutigen Demonstration an dem Ort teilnehmen, an dem die Arbeiten an der Mauer zügig voranschreiten. Das Hügelland erstreckt sich vor mir in welligen Biegungen aus weißem Kalkstein, eingegraben in uralte Terrassen, die von Felsmauern begrenzt werden. Auf diesen Felsmauern wachsen, dicht an dicht, grau-grüne, sehr alte Olivenbäume mit dicken, knorrigen Stämmen. Gelbe und rosa rote Felder blühender Wildblumen leuchten herüber. Unser Vehikel fährt an alten Steinhäusern vorbei und rollt mühsam enge Straßen hinauf. In jedem der Höfe, die wir passieren, wächst ein Feigen- oder ein Olivenbaum. Ich bin hingerissen von der Landschaft, den Olivenhainen, dem anmutigen Miteinander von Oliven- und Feigenbäumen, von Reben, Bohnen und Feigenkakteen. Seit 10.000 Jahren wird hier Landwirtschaft betrieben, und doch bringt dieser Boden, der nie besonders fruchtbar war, noch immer reiche Ernten hervor. Das Leben in diesen Dörfern scheint einem uralten Rhythmus zu folgen. Wenn die Ahnen irgendwann einmal hierher zurückkehren sollten, werden sie sich sofort wieder zu Hause fühlen. Und auch ich fühle ihre Gegenwart. Das Land muss ziemlich ähnlich ausgesehen haben, als Sarah oder Rahel oder die Prophetin Deborah durch diese Hügel wanderten, und sie hätten wahrscheinlich mein Interesse daran wie diese Olivenbäume gestutzt werden, sehr geschätzt. Auch ich besitze ungefähr 70 davon auf meinem Land in Kalifornien und somit hege ich ein professionelles Interesse, obwohl ich zugeben muss, dass ich in den vergangenen Jahren viel zu beschäftigt war, um sie auszuschneiden. Ich bin so glücklich in dieser Natur zu sein, dass ich beinahe vergessen kann, warum ich eigentlich hier bin, vergessen kann, dass zirka zwei Wochen zuvor vier Menschen ums Leben gekommen sind bei einer Demonstration ganz ähnlich der, an der ich heute teilnehmen werde.

Unter den vielen Dingen, die mir beigebracht wurden und von denen ich jetzt weiß, dass sie nicht wahr sind, sind die, die mit Israel und seiner Landwirtschaft zu tun haben. Ich erinnere mich an einen lange zurückliegenden Ausflug mit der Hebräischen High School zu einem Ort, der im Jahr 1966 an der Grenze zwischen Israel und Jordanien lag – der Grenze, die jetzt die Grüne Linie darstellt, die das eigentliche Israel von den besetzten Gebieten der West Bank trennt. Die israelische Seite war grün, die jordanische Seite braun. „Ihr müsst wissen“, sagte unser Führer, „die Araber hatten dieses Land seit 2.000 Jahren und haben nichts daraus gemacht. Wir besitzen es jetzt seit 20 Jahren und haben die Wüste zum Blühen gebracht“.

Ich weiß noch heute, wie sehr diese Aussage mich als jungen Teenager beeindruckte. Viele Jahre später hörte ich die gleiche Aussage in einem Museum von British Columbia (in Kanada). Sie sollte als Erklärung dafür herhalten, warum man den Indianern an der Nordwestküste ihr Land weggenommen hatte – „sie haben es nicht bebaut, haben nichts damit gemacht“. So lautet die schlichte Rechtfertigung der Eroberer. Mit ihr versuchen sie sich einzureden, dass sie die Früchte ihrer Eroberung verdienen. Israel steht für wissenschaftlichen Fortschritt, Palästina für Stillstand, Rückschritt, Aberglaube.

Wenn ich dieses Land aus dem Blickwinkel von Permakultur und ökologischer Planung betrachte, bin ich beeindruckt von der Eleganz der palästinensischen Landwirtschaft, die sich dem Land und dem Klima vollkommen anpasst : sie verbraucht wenig Wasser, verwendet einheimische oder an die Region gewöhnte Pflanzen und schafft es irgendwie noch nach 10.000 Jahren des Anbaus genügend Fruchtbarkeit in diesem steinigen Boden zu bewahren, um Feigen, Trauben, Öl und Brot zu produzieren. Die „wissenschaftliche“ Landwirtschaft, die in einigen (israelischen) Siedlungen betrieben wird, mit ihrer Verschwendung von Wasser, Energie und Chemikalien, erscheint mir nur als eine andere Form des Angriffs auf das Land. Und jetzt weiß ich auch, dass die israelische Seite grün war, weil sie das gesamte Wasser in Anspruch genommen hatten, so wie auch jetzt Sharon die Wasserleitungen für Israel in Besitz nimmt.

Ich steige in Budrus aus, einem Dorf, das ein Kreuzfahrer im 12. Jahrhundert errichtet hat. Hecken von Feigenkakteen umgrenzen kleine Felder, Blumen wachsen aus Rissen in den steinernen Mauern. Perla holt mich ab, die zukünftige Beigeordnete von Budrus. Sie wurde im Libanon geboren, hat einen palästinensischen Vater und wuchs in Kanada auf. Sie ist schlank und anmutig, wie viele der Frauen hier, und zeigt ein warmes Lächeln.

Die Gruppe der Ausländer hat sich in einem Innenhof niedergelassen, von wo sie einen guten Blick auf das hügelige Bergland haben. Das Haus gehört Abu Akhmed, der uns Tee anbietet. Rote Geranien wachsen in einem Beet, und an Bananenstauden hängen reifende Früchte.

Wir reden eine Weile miteinander und zwängen uns schließlich in einen kleinen Lieferwagen, der uns zum nahegelegenen Dorf Deir Kadis bringen soll, auf dessen Dorfplatz sich eine große Menschenmenge versammelt hat. Wir steigen aus und laufen mit allen anderen zu dem Ort in einem weiteren nahegelegenen Dorf, wo die Soldaten mit ihren Arbeiten an der Mauer begonnen haben.

Ungefähr 200 Menschen halten sich auf dem Platz auf. Die Männer setzen sich als erste in Bewegung, die Fahnen, die sie tragen, zeigen Slogans unterschiedlicher politischer Gruppierungen. Ihnen folgt eine große Gruppe von Frauen in weißen Kopftüchern und ihren Töchtern, sie alle singen mit lauter, kraftvoller Stimme. Ich tue mich mit Perla zusammen, die genau wie ich am Ende des Zuges geht. Normalerweise laufe ich ganz vorne mit, aber heute möchte ich zunächst einmal beobachten und nicht gleich verhaftet werden. Außerdem mache ich Fotos, was mich langsamer sein lässt. Eine Schar von Schulmädchen in gestreiften Kleidern hüpft um uns herum. Sie singen und lachen. Die älteren von ihnen tragen Kopftücher, einige der jüngeren sind in Jeans und hellen Pullovern. Wir gelangen an die Stadtgrenze, wo die Jungen und Schnellen unter uns in den Olivenhainen verschwinden. Ich bin weder das eine noch das andere, aber halte mich in der Nähe einer jungen Frau und laufe aus der Stadt in das unebene Gelände hinaus. Ich komme nur langsam voran – meine Knie und Fußgelenke sind einfach nicht mehr so biegsam wie früher und tragen mein Gewicht nicht mehr so leicht. Perla bleibt an meiner Seite, während die Menschen vor uns immer weiter ausschwärmen in ein schönes Tal voll grau-grüner Olivenbäume hinein und einen Hügel in der Ferne hinauf, auf dessen höchstem Punkt die Planierraupen zu sehen sind.

Erik, der schon oben ist bei den Soldaten, hat mit Perla telefoniert und ihr mitgeteilt, dass die Soldaten damit drohen die Ausländer in Haft zu nehmen. Bislang ist das aber noch nicht geschehen. Ich bewege mich mühsam durch das felsige Gelände, meine Knie und Fußgelenke gestatten es mir einfach nicht so schnell vorwärts zu kommen wie mir lieb wäre. Wir sind noch weit hinten bei den Frauen, als die vordere Welle den Gipfel des Hügels erreicht und zurückgedrängt wird. Wir sehen eigenartig schöne Schwaden von Tränengas über den Olivenbäumen schweben, sich dann absenken und wie ein plötzlich einfallender, wabernder Nebel zwischen den Bäumen hängen.

Die Dorfbewohner verteilen sich und kommen nach und nach wieder zurück. Die Soldaten feuern Schallgeschosse ab, die an ihrem tiefen, ohrenbetäubenden Klang zu erkennen sind, und etwas, das sich wie scharfe Munition anhört, deren lauter Knall im Tal widerhallt. Sie schießen mit Gummigeschossen auf die sich versammelnde Menge. Wir laufen zu den anderen Ausländern hin, die im Tal sitzen, am Fuß unseres Hügels, genau unterhalb der Planierraupen. Dann erreichen uns Schwaden von Tränengas, und die Soldaten kommen den Hügel herab. Wir rennen zurück, einen Abhang hinauf, den wir gerade heruntergekommen sind, stolpern über Felsen und klettern hastig über Steinmauern. Ich bin erschrocken über die Tatsache, dass mir das Rennen so schwer fällt. Obwohl ich regelmäßig laufe, komme ich selbst in meinen besten Momenten nicht schnell genug einen Hügel hinauf. Ich hatte gehofft, dass das Adrenalin mir helfen würde, aber ich muss eingestehen, dass es das nicht tut. Wenn ein 18jähriger Soldat mich verfolgte, könnte ich ihm nicht entkommen.

Wir sind jetzt ziemlich weit von den Soldaten entfernt und Perla und ich bleiben stehen, um auszuruhen. Eine Gruppe junger Mädchen kommt zu uns her. Unten, am Fuß des Abhangs, versuchen ein paar Männer die Gruppen neu zu ordnen. Die Frauen gehen hinunter zu ihnen und steigen dann wieder den Hügel hinauf, auf dem sich die Planierraupen befinden. Eigentlich sollten wir mit ihnen gehen, aber ich bin wirklich müde und dieses Mal vielleicht auch ein wenig zu vorsichtig. Wie wir später erfahren, ist eigentlich geplant, dass die „shebob“, die jungen Männer, den Hügel auf zwei Seiten hinauf rennen und die Soldaten ablenken, während die Frauen in der Mitte hinaufklettern. Aber die „shebob“ rennen direkt auf die Soldaten zu und zwingen dadurch die Frauen auf die Seiten auszuweichen, wo sie in große Felsblöcke geraten, die sie nicht überwinden können. Oben auf dem Gipfel sehen wir eine kleine Gruppe von Frauen, Ausländern und Medienvertretern neben den Planierraupen, die weiterhin in Betrieb sind. Durch Perlas Fernglas sehe ich eine Frau mit den Soldaten streiten. Sie sitzt direkt vor der Schaufel einer der riesigen Planierraupen, die aus der Ferne aussehen wie angreifende Ungeheuer.

Der Tag geht dahin mit Annäherungen an die Soldaten und Salven von Tränengas, und die jungen Mädchen versuchen mir Arabisch beizubringen. Sie sind zehn, elf oder dreizehn Jahre alt, einige von ihnen tragen seit kurzem Kopftücher. Sie zeigen uns, welche von ihnen bei der ersten Demonstration in Ohnmacht gefallen ist wegen des Tränengases und welche von einem Gummigeschoss getroffen wurde. Gegen vier Uhr nachmittags brechen wir auf. Abu Akhmed ist wütend auf die Dorfbewohner, er stammt aus Budrus, wo die Menschen besser organisiert und mutiger sind. Ein paar junge Männer in unserer Gruppe sind auch enttäuscht von dem Mangel an Zusammenhalt und Organisation. Ich bin es nicht, bzw. ich weiß aus Erfahrung wie wenig von einer Gruppe erwartet werden kann, die kein spezielles Training, keine Vorbereitung und keinen Plan hat. Ich bin da, um bei der Vorbereitung solcher Trainings zu helfen und das ISM bei der Planung von Vorbereitungskursen für Ausländer und Palästinenser zu unterstützen. Ich sehe den Tag nicht als vergeudet an, obwohl es mir lieber wäre, ich wäre mutiger und stärker gewesen und wäre weiter vorne mitgelaufen, so wie ich es normalerweise tue. Niemand wurde getötet oder schwer verwundet. Aber es verlässt auch keiner den Ort mit einem Gefühl von Ermächtigung. Die Planierraupen setzen ihre Arbeit fort. Dieses friedliche Tal mit seinen uralten Bäumen und der traditionellen Lebensweise seiner Bewohner wird bald nur noch nackter Fels sein und zweigeteilt werden durch einen riesigen Zaun, der die Dorfbewohner von ihrem Land trennt. Noch haben wir die Handlungsweisen oder Strategien , die das verhindern können, nicht gefunden.

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