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Adelheid

Adelheid

Das Interview ist am 9. Oktober 2014 geführt worden.

Prof. Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Jahrgang 1955 und außerplanmäßige Professorin für Religionswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Sie ist seit 31 Jahren verheiratet und hat eine Tochter (24). Adelheid lebt in Marburg; mehr zu ihr und über sie findet man auf ihrer Internetpräsenz (www.dakini.de).

Wie hast du zu Reclaiming gefunden?

Zum ersten Witchcamp in Oberlethe bin ich im Jahr 2001 gekommen, weil ich von Donate Pahnke (jetzt McIntosh) erfahren hatte, dass es das letzte Witchcamp mit Starhawk war, die ich unbedingt kennenlernen wollte. Ich bin mit Donate, die ebenfalls feministische Religionswissenschaftlerin ist und darüber hinaus als die Begründerin der feministischen Religionswissenschaft im deutschsprachigen Raum betrachtet werden kann, befreundet und war daher auch an ihrer spirituellen Arbeit interessiert. Außerdem bin ich offen für diverse Spiritualitäten und schon aus beruflichen Gründen interessiert an verschiedenen religiösen Wegen.

Wie sah dein vorheriger spiritueller Weg aus?

Ich war (und bin bis heute) engagiertes Mitglied meiner evangelischen Gemeinde in Marburg. Die christliche Identität ist daher meine spirituelle Heimat, und anders als viele, die sich bei Reclaiming versammeln, habe ich es nie für nötig gehalten, mich davon so zu distanzieren, dass ich austreten, öffentlich protestieren oder Ähnliches wollte. Vielmehr vertrete ich meinen feministischen Standpunkt innerhalb der Kirche überall dort, wo es thematisiert wird, und habe durch glückliche Umstände auch meist interessante und offene Gesprächspartner/innen gefunden. Obwohl es noch viel zu verbessern gibt, gehört die Kirche, jedenfalls die evangelische, weniger die katholische, für mich heute zu den eher frauenfreundlichen religiösen Orten, zumal wenn man das mal mit anderen Religionen bzw. deren frauendiskriminierenden Teilaspekten (Hinduismus mit geschlechtsspezifischen Abtreibungen, Mitgiftmorden und Töchterdiskriminierung, Islam mit Frauenverschleierung, den Taliban und jetzt dem fürchterlichen IS) vergleicht. Neben meiner christlichen Sozialisation habe ich aber immer auch andere religiöse Wege ausprobiert, z. B. buddhistische Meditation oder eben Reclaiming.

Was bedeutet Reclaiming für dich? Was hat dich am meisten daran angezogen?

Für mich ist der praktische Wert und Nutzen einer religiösen Richtung, innerhalb derer ich mich wohlfühlen kann, weniger stark als von ihren Inhalten von dem Maß bestimmt, in dem sie anderen Religionen nicht-diskriminierend und wertschätzend entgegenkommt.

Das mit den Inhalten meine ich so, dass noch jede Religion, die ich kennengelernt habe, Inhalte hat, die ich nicht befürworten kann oder einfach für unglaubwürdig halte, z. B. die These im Christentum, dass Jesus einen Sühnetod für unsere Sünden gestorben ist, im Hinduismus natürlich das Kastensystem und seine theologische Begründung, im Heidentum das Für-wirklich-Halten mancher göttlicher Wesen, etwa Feen oder Ahnen, im Buddhismus einige Details spiritueller Praktiken usw. Wenn ich rein nach den theologischen oder theoretischen Inhalten ginge, würde ich vielleicht keine mir genehme Religion finden können. Es geht aber eben auch um die Praxis, um die Gefühle, die mit der Ausübung religiöser Rituale verbunden sind, um das Gemeinschaftsleben, um das Maß, in dem eine religiöse Tradition „Heimat“ für mich ist.

Dass mich z. B. bei den von mir besuchten Reclaiming-Veranstaltungen nie auch nur eine einzige Person wegen meiner religiösen Identität angegriffen oder zurückgewiesen hat, dass ich vielmehr viel Wertschätzung, Verständnis und Interesse für meine besonderen Vorlieben und Aversionen gefunden habe, habe ich immer als einen großen Pluspunkt bei Reclaiming erlebt. Zugleich sehe ich die Berechtigung für die in Reclaiming präsente Kritik an etablierten patriarchalen Religionen und Kirchen weiß Göttin ein und kann auch bestens nachvollziehen, warum das bei vielen Menschen, vor allem Frauen, zur Distanzierung von Kirche und Tradition geführt hat. Dass es bei mir anders ist, hängt sicherlich nicht zuletzt mit der sehr liebevollen und positiven religiösen Erziehung durch meine Eltern, vor allem meine Mutter, zusammen.

In den Witchcamps der frühen „Nullerjahre“ fand ich so viel spirituelle und Ritual-Kompetenz, z. B. bei den Abendritualen, dass mich das von Anfang an schwer beeindruckt hat, vor allem natürlich bei Starhawk, die damals noch nicht ihren jetzigen, für mein Empfinden zu politisierten Weg gegangen ist, das fing erst kurz danach an, aber auch bei Donate, Morgana und wie sie alle hießen, viele habe ich ja nur ein- oder zweimal erlebt und nicht mehr namentlich im Kopf. Da ich selbst eher mystisch orientiert bin, habe ich nie einen Widerspruch zu meiner christlichen Identität verspürt, wenn ich bei Reclaiming mitgemacht habe, sondern im Gegenteil, beides ergänzte sich durch verschiedene Schwerpunkte. Nach wie vor sind es die Rituale, die mich bei Reclaiming am meisten interessieren und faszinieren. Die Kompetenz der Ritualleiterinnen hat allerdings in den Jahren nach Starhawk langsam nachgelassen.

Warum bist du dabei geblieben?

Jetzt bin ich praktisch nur noch in einer privaten reclaiming-inspirierten Ritualgruppe aktiv, die nicht an meinem Wohnort ist, so dass ich nur gelegentlich teilnehmen kann.

Als 2005 das letzte reine Frauencamp (Feencamp) abgeschafft und durch das Phoenixcamp ersetzt wurde, bin ich zu keiner solchen Veranstaltung mehr gefahren, vor allem, weil ich mit der gemischten Struktur nichts anfangen kann (siehe unten).

Welche Rolle spielt die Spiritualität in deinem täglichen Leben?

Eine sehr große, die ich allerdings vor allem in meiner wissenschaftlichen Arbeit als Religionswissenschaftlerin auslebe. In meinem Beruf und vor allem als Dozentin kommt es mir darauf an, den „Sitz im Leben“ bei religiösen Praktiken zu ergründen und darzustellen und etwa zu analysieren, wo überall im alltäglichen Leben religiöse Gefühle, Symbole, Aspekte präsent sind, ohne dass es sich um etablierte Religion im engeren Sinne handelt. Z. B. die religiösen Aspekte bei Fußballspielen, Popkonzerten oder dem Filmstarkult, bei der Produktion und dem Genuss von Kunst, Musik, Tanz.

Wie verbindest du Reclaiming mit deinem Alltag?

Der Kontakt mit heidnischer Spiritualität hat mich auf manches noch deutlicher aufmerksam gemacht, was ich auch vorher teilweise schon gesehen habe, oft ohne es richtig in Worte fassen oder deuten zu können: Spiritualität und Natur, die Göttlichkeit der Natur, die Berechtigung von ganz verschiedenen spirituellen Zugängen zur Wirklichkeit, Respekt für andere Ansätze in diesem Bereich, die Vielgestaltigkeit der Welt, die sich in der Vielgestaltigkeit spiritueller Wesen, Wege und Aspekte niederschlägt. Der komplette Verzicht darauf, die Spiritualität oder das Leben anderer, aus welchen Gründen auch immer, zu bewerten oder gar zu verurteilen.

Welchen Platz hast du in der Reclaiming Gemeinschaft? Wie hast du ihn gefunden bzw. bist hineingewachsen?

Im Augenblick eher keinen. Ich würde mich für eine aktive Mitarbeit wohl auch erst interessieren, wenn die Konzentration auf spezifisch weibliche Spiritualität wieder ein Schwerpunkt werden würde, siehe unten. Das ist meinem Eindruck nach nicht in Sicht.

Was sind deine Wünsche und Träume in Hinblick auf Reclaiming für die Zukunft?

In meinen Augen hat die Frauenbewegung ihr spirituelles Potential bei Weitem noch nicht ausgeschöpft oder entwickelt, und es war viel zu früh für die Beendigung der reinen Frauenveranstaltungen, die in dem von mir überblickten Reclaiming-Bereich Mitte der „Nullerjahre“ eintrat.

Es gibt seit einiger Zeit eine – von der Frauenbewegung zweifellos mitinspirierte – Männerspiritualität, initiiert von Leuten wie Richard Rohr, bei der es u. a. um männerspezifische Initiationsrituale geht und innerhalb derer es nie die Frage war, ob auch Frauen aufgenommen werden sollten, es war von vornherein und ist bis heute klar, dass es für Männer gut ist, ihre Spiritualität bzw. einen Teil davon in spezifisch männlicher Weise zu leben und sich auf ihre eigenen spirituellen Stärken, Erlebnisformen und Bedürfnisse zu konzentrieren, und dass die Anwesenheit von Frauen dabei eher stört, nicht weil man etwas gegen sie hat, sondern weil es um Konzentration auf einen einzigen Bereich geht. Buddhisten nennen das „Einspitzigkeit des Geistes“ und halten es für spirituell höchst notwendig. Männer sind durch ihre Sozialisation viel besser auf den Umgang mit reinen Männerräumen vorbereitet, denn sie haben seit Jahrtausenden Frauen aus allem, was ihnen wirklich wichtig war, vom Gottesbild bis zum Priesteramt und von politischer Führung bis zur Rolle des Familienoberhauptes, draußen gehalten.

Frauen dagegen sind seit Jahrtausenden dazu sozialisiert worden, Männer in ihr Leben einzubeziehen und zum eigentlichen Mittelpunkt nachgerade religiöser Verehrung zu machen (der Kult des Ehegatten als höchster Gottesdienst ist etwa in Indien eine explizit von Ehefrauen erwartete und geforderte Verhaltensweise, und noch Mitte des 20. Jh. durfte eine evangelische Pfarrerin nur so lange ihren Beruf ausüben, wie sie ledig war, denn man kann eben nicht zwei Herren gleichzeitig dienen…). Frauen haben aufgrund dieser Sozialisation viel größere Schwierigkeiten damit, einen reinen Frauenraum ohne männliche Beteiligung längere Zeit auszuhalten. Schon bei meinem ersten Witchcamp hörte ich Stimmen in dieser Richtung, dass Frauen sich wünschten, das Glück des Camps mit ihrem männlichen Partner teilen zu können, warum der denn nun nicht mitkommen dürfe. Das hat mich damals sehr traurig gemacht. Frauen haben es nur kurze Zeit gewagt, weibliche Spiritualität nur unter Frauen zu leben, eigentlich nur, solange die kurze Phase der Wut über die Diskriminierung anhielt. Das heute wieder vorherrschende Zurückschrecken vor der reinen Frauengruppe gehört in den Zusammenhang einer gesellschaftlichen Gesamtbewegung, die den Feminismus und das Eintreten für Frauenrechte als altmodisch und überflüssig betrachtet; ich habe bei meiner Arbeit häufig mit weiblichen Studierenden zu tun, die strikt dagegen sind, als feministisch identifiziert zu werden, und die auf Leute wie Alice Schwarzer herabblicken.

Die Konzentration auf die eigene Weiblichkeit und damit auf weibliche Bezugsgruppen und Ritualgruppen ist aber m. E. dringend nötig, um das Potential des Weiblichen im spirituellen Bereich, das Jahrtausende unterdrückt wurde, überhaupt erstmal auszuloten und kennenzulernen. Männer haben diese Notwendigkeit der geschlechtsspezifischen Inneneinsicht verstanden und leben, was die spirituelle Männerbewegung angeht, die „Idee“ der Frauenbewegung heutzutage besser als die Frauen selbst.

Mein Traum für die Zukunft wäre, dass dieser Frauenraum und frauenspezifische Spiritualität zu Reclaiming zurückkommen. Ich weiß aber, dass das komplett unrealistisch ist und mache mir nicht wirklich Hoffnungen in dieser Richtung. Das wäre nicht so tragisch, wenn es andere Gruppen oder Organisationen gäbe, die das übernommen hätten. Die sind aber meines Wissens nicht in Sicht.

Abgesehen davon würde es mich freuen, wenn in Reclaiming eine größere Wertschätzung für die Fähigkeiten derer, die länger und intensiver ausgebildet sind als man selbst, Fuß fassen würde. Dass alle Menschen ihre eigenen Priester/innen sind, ist eine im Prinzip richtige Idee (die es schon seit der Reformation auch im Christentum gibt), aber altgediente LehrerInnen haben in der Regel einfach auch mehr Wissen und Können, das nicht aufgrund der vermeintlichen Gleichheit aller übergangen und missachtet werden sollte. Mehrere LehrerInnen haben in der Vergangenheit Reclaiming verlassen, weil es diese Wertschätzung für ihre Erfahrung und ihr Können nicht gab, und das sollte nicht passieren, weil es die Gemeinschaft wichtiger TrägerInnen beraubt, von denen man und frau lernen sollte, anstatt sie auszugrenzen.