Curtis Nike

Das Interview ist am 31. März 2016 geführt worden.

Curtis Nike (Jahrgang 1970) bezeichnet sich selbst nicht als reine Reclaimerin, sondern als ‚dem Reclaiming nahe freifliegende Hexe‘. Als Religionswissenschaftlerin und ehemalige Politikerin lehnt sie die Verquickung zwischen ‚Religion‘ und ‚Politik‘ in jeglicher Form vehement ab. Wenn Reclaiming also eine Religion ist, dann ist Curtis keine Reclaimerin; wenn Reclaiming eine ’spirituelle Bewegung‘ ist, dann kann sie sich mit Reclaiming identifizieren.
Sie lebt mit einem schwarzen Hexenkater mitten im Herzen von Berlin und arbeitet als Tarotanalytikerin und spirituelle Lebensberaterin. Mehr zu ihr findet man hier: www.curtisnikeverlag.de

Und nun die Fragen:
Wie hast du zu Reclaiming gefunden? Wie sah dein vorheriger spiritueller Weg aus?

1984, da war ich erst 14 Jahre alt, fand ein Buch zu mir. Im Deutschen hat es den etwas verwirrenden Titel ‚Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin‘. Die Autorin Starhawk war auf dem Titelbild abgebildet und sah überhaupt nicht ‚hexenmäßig‘ aus. Ja, für mich als Jugendliche war sie sogar irgendwie uncool. Dennoch zog mich das Buch in seinen Bann, die Nennung der ‚Großen Göttin‘ im Titel elektrisierte mich als heranwachsende Frau. Und so las ich immer mal wieder darin (ich habe heute noch genau dieses Buch) und ließ mich dadurch inspirieren. Meine ersten magischen Übungen und meine ersten ‚Kreiserfahrungen‘ basieren auf diesem Buch. Dass das, was ich machte, ‚Reclaiming‘ ist, und das gebe ich offen zu, war mir damals überhaupt nicht bewusst.
Mit 14 war ich also schon recht früh in Berührung gekommen mit dem Hexenkult, was daran liegt, dass ich wesentlich ältere Freundinnen hatte (alle schon volljährig), die sich selbst als Hexen bezeichneten. Mit 17 dann bin ich in meinen ersten magischen Kreis (wir nannten es Zirkel, nicht Coven) gekommen. Unsere Arbeit war mehr auf Magie und Energiearbeit konzentriert, nicht auf die Jahreskreisfeste. Dennoch war Starhawks Werk für uns ein Leitfaden. 
Im Großen und Ganzen kann man sagen: Reclaiming war mein erster Grundpfeiler auf meinem Weg der Magie.

Was bedeutet Reclaiming für dich? Was hat dich am meisten daran angezogen? Warum bist du dabei geblieben?

Reclaiming bedeutet für mich vor allem ‚Spirituelle Eigenermächtigung‘. Es gibt keine Hohepriesterschaft, keine Hierarchien, keine festgefahrenen Lehren. Alle Menschen in dieser Tradition haben die Priesterschaft und das Schülerdasein inne. Und dies ist kein Widerspruch, sondern sichert das spirituelle Wachstum, weil jeder Mensch persönliche Erfahrungen unbewertet mit in die magische Arbeit einbringen kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der mich sehr anzieht, ist die Bewertungslosigkeit gegenüber des individuellen Glaubens des Einzelnen. Mir fällt keine andere Religion oder spirituelle Bewegung ein, in der es irrelevant für die spirituelle Gemeinschaft ist, wie der ‚Götterglaube‘ des Einzelnen sich gestaltet. Egal, ob jemand die Gottheiten – beispielsweise Thor, Freya, Diana, Inanna, Loki – als innere Archetypen, als pantheistisch der Natur innewohnend oder als vom Menschen unabhängige Instanzen wahrnimmt: Für die spirituelle Gemeinschaft sind alle Arten von persönlichem Glauben willkommen. Unter Reclaimern findet man Hexen aus der Ritualmagie oder dem Wicca ebenso wie Christen oder Juden oder Buddhisten. Sie alle sind willkommen in dieser spirituellen Richtung. Bei den Reclaimern nehmen sie sogar so verrückte Leute wie mich 😀 Wo sonst gibt es sowas?

Welche Rolle spielt die Spiritualität in deinem täglichen Leben? Wie verbindest du Reclaiming mit deinem Alltag?

Spiritualität ist so tief in meinem Leben – und meiner Arbeit – verbunden, dass sie Teil meines Alltages ist. Insofern kann ich die Begriffe ‚Spiritualität‘ und ‚tägliches Leben‘ gar nicht voneinander trennen. ‚Spirit‘ ist ja ‚Geist‘, und der arbeitet bei mir immer 😉 Und Reclaiming ist für mich insofern stets präsent, als dass Reclaiming eine meiner ältesten Wurzeln ist. Es gehört einfach zu meinem Leben.

Welchen Platz hast du in der Reclaiming Gemeinschaft? Wie hast du ihn gefunden bzw. bist du hineingewachsen?

Ich hoffe ich habe keinen ‚festen‘ Platz in der Reclaiming Gemeinschaft, denn dann würde es für mich bedeuten, dass es höchste Zeit ist in Bewegung zu kommen. Für mich ist stetige Veränderung ein wichtiger Entwicklungsfaktor, denn Veränderung ist zum einen Wachstum und Niedergang (aus dem stets Neues entsteht), zum anderen der Puls des Jahreskreises. Wichtig ist mir aber auch stets etwas in die Reclaiming Gemeinschaft zu geben. 
In den 90er Jahren und im ersten Millenium-Jahrzehnt hatte ich einen kleinen magischen Verlag, in dem ich poetische, magische Schriften und hexische Wandkalender herausbrachte. Als ich den Verlag einstellte (wegen Überarbeitung, ich schaffte es nicht mehr neben meinem Beruf) machte ich eine kleine Pause, dann begann ich zum einen Camps und Treffen der Reclaiming-Gemeinschaft zu besuchen, zum anderen erstellte ich ein Angebot an Workshops, die sich mit Aspekten der Magie, der Kreativität oder der Mythologie befassten. Einige davon biete ich regelmäßig immer wieder an. 
Heute bin ich – gemeinsam mit anderen Reclaimern – in der Hexengruppe ‚Die Zaunköniginnen‘ in Berlin aktiv, wo wir regelmäßig gemeinsam magisch an einem Grundthema arbeiten, aber auch offene, gemeinsame Treffen haben. Was wird weiter kommen? Keine Ahnung wohin ich wachse, ich bin neugierig!

Was sind deine Wünsche und Träume in Hinblick auf Reclaiming für die Zukunft?

Bodenständigkeit und Höhenflüge!
Verträumte Magie und Wissen erschaffen!
Menschenherzen erreichen und mit Feenseelen tanzen!
Die animalische Seele entfesseln und gefestigte Frauen wie Männer hervorbringen!
Zuletzt aber wünsche ich mir, dass noch viele Menschen neugierig werden auf Reclaiming und den Mut haben, diesen eigenständigen und lehrreichen Weg auszuprobieren.