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Richtige Taktiken anwenden : Lektionen von der G8 Mobilisierung in Calgary

Übersetzung: Brigitte Hummel (Kalia e.V., München)

Eine wirkungsvolle Demonstration muss ein wenig wie Goldilock’s Haferbrei sein: nicht zu heiß, nicht zu kalt, sondern gerade richtig. Die kürzlichen Proteste in Alberta gegen die G8, die Spitzen der acht wichtigsten Industrieländer, sind ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn wir Organisationsmodelle anwenden, die nicht wirklich zu den gegebenen Situationen passen. Wenn wir für ein heißeres Feuer kochen als wir eigentlich haben, dann bekommen wir einen Haferbrei, der kälter ist als nötig.

Die Teilnehmerzahlen in Calgary waren gering, nie mehr als fünftausend; trotzdem waren die Aktionen in vieler Hinsicht erfolgreich. Sie verstärkten die örtliche Organisation und erhöhten das Problembewusstsein. Von den Standards von Calgary aus betrachtet war es schon ein großer Erfolg so viele Menschen auf die Straßen zu bringen, besonders wenn ich an die Kampagne der Angstmacherei und Kriminalisierung denke, die von der Regierung und den Medien gegen die Aktivisten gestartet wurde. Die kanadische Arbeiterbewegung unterstützte die Aktionen in hohem Maß, und die absolut friedliche Qualität der Proteste machte die Öffentlichkeit wütend auf die Regierung und die G8, die $ 300 Millionen für die Sicherung des Treffens ausgegeben hatten. Die OrganisatorInnen leisteten großartige Arbeit. Sie überwanden viele Hindernisse bei der Schaffung der Infrastruktur für die Mobilisierung und die Bereitstellung eines starken Handlungsrahmens.

Trotz allem litt Calgary unter einem gravierenden Nachteil : dem Fehlen einer machtvollen, zusammenhängenden Aktion, die einen tiefen Eindruck auf die G8 Politiker hätte machen können. Vielleicht hätten sich mehr Menschen auf den Weg nach Calgary gemacht, zumindest von der Westküste aus, wenn es eine klare Handlungslinie gegeben hätte. Und wenn wir die Machtstrukturen, die wir bekämpfen, wirklich zerstören wollen, muss eine Aktion „Biss“ haben und den Willen zu wirklicher Konfrontation.

Bei der Organisation der G8 Aktionen in Calgary wurde die Vielfalt möglicher Taktiken in Betracht gezogen. Mir wurde der Grund dafür nie ganz klar, weil alle, die ich traf, nur Taktiken anwenden wollten, die die klaren Grenzen der Gewaltlosigkeit nicht überschritten. Selbst die Mitglieder der „Anti-Capitalist Convergence, die im Allgemeinen zu den militanteren Gruppen gehört, planten eine Aktion, die physische Konfrontation ausschloss.

Calgary war einfach nicht der Ort oder die Zeit für starke Konfrontationstaktiken oder Zerstörung von Eigentum, ganz gleich, welchen Prinzipien man verschrieben war. Calgary wird „Das Texas von Kanada“ genannt wegen seines Ölreichtums und seiner rechten Politik. Es gibt da keine Tradition der Straßenproteste; eine Widerstandskultur existiert zwar, ist aber unbedeutend. Straßenschlachten und Einwerfen von Fenstern hätten grundsätzlich jegliche zukünftige Anstrengung zur Organisation radikalerer Maßnahmen in Calgary und möglicherweise überall im Staat Alberta verhindert.

Warum haben sich die OrganisatorInnen der Aktion also nicht einfach auf Prinzipien der Gewaltlosigkeit geeinigt? Teilweise, weil „Vielfalt der Taktiken“ inzwischen zu einer eingefahrenen Vorgehensweise der Bewegung geworden ist , nach der, unserer Meinung nach, eine kraftvolle, militante, wichtige Gipfel-Aktion organisiert werden sollte. Der Typus der machtvollen Demonstration, die in Calgary eigentlich hätte organisiert werden können, ist von unserem Radarschirm verschwunden. Die Bedingungen in Calgary riefen nach einer Massenaktion, die sowohl störend als auch gewaltfrei war.

Die Konzentration auf Vielfalt von Taktiken hat uns in mancher Hinsicht gute Dienste geleistet. Sie hat etwas durchbrochen, das leicht zu stickigem Moralismus die Gewaltfreiheit betreffend werden kann und zu einem gedankenlosen Bauen auf veraltete, inflexible Taktiken. Sie hat es uns ermöglicht potentiell trennende Konflikte zu vermeiden, aber wir haben dafür bezahlt. Anstatt uns wirklich damit auseinanderzusetzen , was sinnvoll ist in einer gegebenen Lage, sagen wir einfach „Wir unterstützen die Vielfalt der Taktiken“ , ohne jemals genau zu definieren, wie diese Taktiken eigentlich aussehen.

Es ist diese Ungenauigkeit, die die Menschen abschreckt : keiner weiß wirklich, ob wir übereingekommen sind anarchistischen Fußball auf der Straße zu unterstützen oder die Fenster der örtlichen Banken einzuwerfen. Wir verstärken die Angstkampagnien der Medien und der Regierung.

Wenn wir Diskussionen aus dem Weg gehen, und auch Argumenten zu Gewalt und Gewaltlosigkeit, dann lassen wir viele Menschen in dem Glauben „gewaltlos“ sei gleichbedeutend mit „sicher“, „legal“, „passiv“ und „Konfrontation vermeidend“. Die Folge ist, dass jegliche Störaktion oder jeglicher zivile Ungehorsam als gewaltsam angesehen werden. Konfrontation und Störaktionen sind jedoch wesentliche Bestandteile wirkungsvoller, gewaltfreier Aktionen. Das Risiko des Inhaftiertwerdens gehört seit eh und je zum gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Doch höre ich jetzt oft Menschen in der Bewegung die Vorstellung der Medien wiedergeben, dass eine Aktion, die zu Inhaftierung führt, gewalttätig gewesen sein muss. In der abschließenden Besprechung der Aktion von Calgary beklagte sich eine Frau heftig und meinte: “Wir sind übereingekommen, dass dieser Demontrationszug gewaltlos sein würde, und dann hat plötzlich jemand gefragt, wie viele von uns bereit seien sich inhaftieren zu lassen.“

Das führt dazu, dass Menschen, die gewaltlos handeln wollen, sich sicheren Aktionen anschließen, die Konfrontation vermeiden. Diesen Aktionen fehlt aber die Kraft die Machtstrukturen wirklich zu konfrontieren oder ihnen Rechtmäßigkeit abzusprechen. Wir verlieren die Chance gewaltlosen zivilen Ungehorsam oder gewaltfreie Störaktionen im großen Stil zu organisieren. Die Planung spezifischer Aktionen wird meistens Affinitätsgruppen überlassen, die oft gar nicht wirklich existieren, weil wir gar nicht so mobilisiert und organisiert sind, dass wir sie bilden oder erhalten könnten. Selbst erfahrene Gruppen werden kaum starke, autonome Aktionen in einem Vakuum planen, ohne Impulse von anderen Gleichgesinnten und ohne klare Koordination. Die Konzentration auf eine Sicherheitskultur, die der „Vielfalt der Taktiken“ eigen ist, erschwert Koordination und hindert uns daran zu wissen, was, wenn überhaupt, geplant wird.

Wenn die Phantome real wären, wenn es tatsächlich eine Armee hirnloser, anarchistischer Gangster gäbe, bereit jede Gipfel-Stadt zu überrennen und zu zerstören, würden die Dinge wenigstens interessant. Aber diese Gangster sind in Wirklichkeit gar nicht hirnlos. Sie befassen sich ausführlich damit wie die alltägliche Organisation in den Kommunen, in denen wir leben, gestärkt werden kann, und wie wir uns verbünden können mit Farbigen, Einwanderern und Arbeitern. Diese Art der Fragestellung wird die Menschen unweigerlich von der Konfrontation um ihrer selbst willen abhalten und wird sie zur Planung von Aktionen ermutigen, an denen Arbeiter und Einwanderer wirklich teilnehmen können.

Wenn wir unsere Aktionen mit Blick auf die „Vielfalt von Aktionen“ organisieren und dann versuchen eine breitere Schicht von Menschen zu mobilisieren, dann einigen wir uns oft im letzten Augenblick darauf unsere Aktionen „grün“ oder wenigstens Konfrontationen vermeidend zu gestalten: Das hat zur Folge, dass unsere Aktionen letztlich zahmer und weniger wirkungsvoll sind als sie sein könnten, wenn wir von Anfang an eine gewaltfreie Störaktion organisiert hätten, die sich wirklich mehr als nur auf symbolische Weise gegen eine Unterdrückungsinstitution richten könnte.

So hätten wir zum Beispiel in Calgary eine Autokarawane planen können zur Unterstützung der kanadischen Postarbeiter-Gewerkschaft, deren Vertreter zu den Barrikaden in Kananaskis gingen und Botschaften überbrachten. Wir hätten die Straße blockieren und uns weigern können wegzugehen, bevor sie die Postarbeiter durchgelassen haben; oder wir hätten Delegierte am Verlassen des Treffens hindern können, bevor sie nicht herauskämen und sich unsere Sicht der Probleme anhörten. Oder wir hätten einen Schlangenmarsch in die Innenstadt mit Massenblockaden bei den Ölgesellschaften beenden und damit eine Verbindung zwischen Öl, dem Kapitalismus global agierender Konzerne und dem „Krieg gegen den Terror“ herstellen können.

Um solche oder andere wirkliche Störaktionen auszuführen, hätten wir uns auf eine Art organisieren müssen, die nur möglich ist in einem politischen Raum, der durch ein ausdrückliches Bekenntnis zu gewaltfreiem Handeln entsteht.

Strategische Gewaltfreiheit erlaubt es uns in großem Stil für Aktionen zu mobilisieren, die mehr als nur symbolisch sind, d.h., die sich tatsächlich in die Betriebsabläufe einer Macht ausübenden Institution einmischen. Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen und Risikogruppen können solche Aktionen unterstützen und an ihnen teilnehmen, in denen Platz ist für viele notwendige Rollen mit unterschiedlichen Risikograden.

Wenn wir uns der Gewaltfreiheit als strategischem Mittel für eine bestimmte Aktion verschreiben, dann können wir uns offen organisieren, ohne Geheimhaltungsmaßnahmen und mit breiter Beteiligung an Entscheidungsfindungen. Eine offene Art der Organisation bedeutet zwar, dass wir das Überraschungselement bei unserer Planung verlieren, aber das können wir mit einbeziehen. Die schlimmsten Misserfolge bei Aktionen erleben wir oft dann, wenn wir uns auf Geheimhaltung verlassen, die selten so undurchlässig ist, dass sie die Pläne der Behörden durchkreuzen könnte.

Transparenz erlaubt es uns Menschen wirklich zu informieren, zu mobilisieren und sie dazu zu bringen sich uns anzuschließen. Eine Geheimhaltungskultur kann zwar manchmal nötig sein, aber sie arbeitet gegen persönliche Ermächtigung und direkte Demokratie. Die Menschen können nur dann mitreden bei den Entscheidungen, die sie betreffen, wenn sie wissen, worüber entschieden wird und welches die Optionen sind. Transparente Organisation zerstört auch die Macht von Eindringlingen und Provokateuren.

Eine offene Organisationsweise bedeutet, dass wir das Risiko der Identifizierung durch die Behörden und sogar Inhaftierung akzeptieren, nicht weil wir MärtyrerInnen sein wollen, sondern um unser Denken frei zu machen und Dinge tun zu können, die wir sonst nicht täten. Unsere Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit bedeutet, dass unsere Aktionen wenigstens in einigen Punkten durch die Verfassung geschützt sind, und gibt uns eine gewisse Handhabe gegen Verfolgung.

Eine große Zahl von TeilnehmerInnen und eine vorausgehende Planung ermöglichen es uns auch Strategien der Solidarität im Gefängnis zu entwickeln, die die Folgen der Inhaftierung gering halten können.

Eine wirkungsvolle gewaltfreie Aktion lässt sich nicht so leicht im letzten Augenblick organisieren als Ersatz für eine „rote“ Aktion, die wir glauben nicht durchziehen zu können. Es braucht Zeit Menschen zu informieren, zu mobilisieren, vorzubereiten, Affinitätsgruppen zu bilden und zu trainieren, Unterstützung für zu Hause und im Gefängnis zu organisieren, sich mit der Angst auseinanderzusetzen und die Folgen der einzugehenden Risiken abzuwägen.

Wenn wir in dem durch die Ereignisse des 11. September bestimmten Klima unseren alten Schwung in Bezug auf die Fragen globaler Gerechtigkeit wiedergewinnen wollen, brauchen wir Aktionen, die eine große Anzahl von Menschen mobilisieren können mehr zu tun als nur zu marschieren. Wir müssen wieder diskutieren und debattieren und müssen darauf vertrauen, dass unsere Bewegung stark ist, widerstandsfähig und erwachsen genug offene Meinungsunterschiede zu tolerieren. Wir könnten darin übereinstimmen, dass eine Vielfalt von Taktiken langfristig nötig ist zur Unterminierung des Kapitalismus global agierender Konzerne, und könnten doch willens sein uns zur Strategie der Gewaltlosigkeit bei einer Aktion zu verpflichten, wenn dies die stärkste Option zu sein scheint. Anderenfalls haben wir schließlich weder Vielfalt noch Taktik.

Die nächste größere Mobilisierung ist für den 28.9. bis 4.10. in Washington D.C. geplant: Es ist Zeit, dass wir neben dem Spektrum der vorgesehenen Aktivitäten eine kraftvolle, zahlenmäßig starke, ausdrücklich gewaltfreie Störaktion zu sehen bekommen.

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