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Geschichte der Magie

Von Victoria Hegner

Magie ist nicht das einzige, aber ein sehr wichtiges Handwerkszeug von Hexen. Sie ist Teil ihrer religiösen Vorstellungen und existiert auch unabhängig davon.
Doch was genau ist Magie eigentlich? Dazu muss man sich vor Augen führen, dass Magie eine Geschichte hat und dass sie zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten Verschiedenes bedeutet hat. In diesem Beitrag geht es v.a. um das Magieverständnis der westlich-europäischen Hemisphäre. Dabei wird klar: so wechselvoll die Geschichte der Magie auch ist – manches hat über Zeit und Raum seine Gültigkeit bewahrt oder ist auf uns in leicht veränderter Form überkommen.

Antike – das große Eine: die Weltseele

In der Antike war Magie allgegenwärtig und gehörte fest zum Alltag. Hierfür war die Vorstellung grundlegend, dass es sich bei der Erde um einen riesigen lebenden Organismus handelt: Alles ist mit allem verbunden und wird durch eine lebendige, kosmische Kraft durchdrungen. Für Platon, der sich damit eingehend beschäftigte, stellte dies die „Weltseele“ dar. Durch sie strukturierte sich das Leben und ordnete sich durch Entsprechungen: wie innen so auch außen, wie oben so auch unten (Hermetik). Magie – das ist dabei die Möglichkeit des Menschen, die universelle Kraft – die „Weltseele“ – nach eigenem Willen zu beeinflussen. Wie das in der Antike getan wurde, ist durch sogenannte magische Papyri überliefert. Es handelt sich um einzelne Blätter, die in griechischer oder altägyptischer Sprache beschrieben sind. Die ältesten Stücke stammen aus dem 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Sie enthalten magische Beschwörungsformeln, mit denen man beispielsweise Notlagen abzuwenden versuchte; sie erklären, wie Amulette zu verwenden sind, um sich selbst von körperlichen Leiden zu heilen; oder sie beschreiben Prozeduren, durch die man allgemein göttliche Mächte zur Hilfe rufen konnte (Kieckhefer 1992: 29-32). Das Nutzen einer „heiligen Geometrie“ in Form von Pentagrammen oder Dreiecken und die magische Bedeutsamkeit der vier Grundstoffe Luft, Feuer, Wasser, Erde war von entscheidender Bedeutung (vor allem von Aristoteles postuliert, basierend auf der Vier-Elemente-Lehre des Empedokles).
Daneben gab es bereits eine Form von zeremonieller Magie – ein Begriff, der allerdings erst in der Renaissance geprägt wurde. Sie wurde beispielsweise von den sogenannten OphikerInnen betrieben (ca. 5.Jh.v.u.Z.) Dabei handelt es um AnhängerInnen einer Mysterienreligion, zu der eine Vielzahl von Frauen und v.a. Priesterinnen gehörte. Ihr Kreis war klein und blieb nur eingeweihten SpezialistInnen, meist aus den oberen Schichten, vorbehalten. Für die OrphikerInnen bestand Magie darin, die kosmische, göttliche Kraft durch ekstatische Tänze und orphische Gesänge in sich aufzunehmen, „herunterzuziehen“, zu spüren und damit eins zu werden – was im „Fachlatein“ die Theurgie genannt wird. Es gab auch andere Gruppierungen, die sich der Theurgie widmeten. Auch wenn sie wenige waren, so gab es sie doch in der ganzen antiken Welt. Für ihre Rituale nutzten sie u.a. das bekannte Chaldäische Orakel– prophetische Sprüche, die von verschiedenen Göttern und Göttinnen offenbart worden sein sollen und von Julian dem Theurg im 2. Jh. u.Z. niedergeschrieben wurden. Seine Urheberschaft ist – wie es so oft bei antiken Überlieferungen ist – allerdings umstritten. Der griechischen Göttin Hekate, die über die Wegkreuzungen, die Magie und die Toten wachte, kam in dem Orakel herausgehobene Bedeutung zu. Sie symbolisierte die Weltseele und wies in besonderer Weise den Weg zur „Erlösung“ der menschlichen Seele.
Viele Elemente dieser antiken Praxis von Magie sind auch heute für die modernen Hexen wichtig und prägen ihr Verständnis von magischem Handeln und Wirken. Hierzu zählt:
· Das Verständnis von der Welt als riesiger lebender Organismus, der von einer lebendigen, kosmischen Kraft (Weltseele) durchdrungen ist und sich durch Entsprechungen ordnet – beispielsweise wurden Göttern und Göttinnen jeweils spezifische Planeten, Farben, Minerale, Wochentage zugeordnet.
· Das Nutzen von Amuletten, Anrufungen und einer heiligen Geometrie.
· Die magische Bedeutsamkeit der vier Elemente Luft, Feuer, Wasser, Erde – die als die Grundelemente des Lebens und des Universums gelten.
· Die Möglichkeit durch religiöse Ekstase in Berührung mit den Göttern/Göttinnen zu kommen – die Theurgie.
Mit dem Aufkommen des Christentums wurden solche als „heidnisch“ bezeichneten Praktiken und Vorstellungen verdrängt und im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt. Grundlegende Innovationen im Verständnis von Magie, die für moderne Hexen auch heute noch relevant sind, erfolgten erst mit dem Aufkommen der Idee der magia naturalis in der Frühen Neuzeit.
Das Mittelalter wird also in dieser Darstellung ausgelassen, obwohl die Idee der magia naturalis durch magische Schriften aus dieser Zeit direkt und indirekt beeinflusst wurde. Wichtige Abhandlungen sind hier z.B. das Werk des Picatrix, das im 11. Jahrhundert erschien und eine Vielzahl von philosophischen, astrologischen und magischen Themen behandelt (Yates 1964: 49-57).
Doch so sehr sich die magischen Vorstellungen des Mittelalters fortschreiben, so sehr stellt gerade die Naturmagie einen Bruch damit dar. Die „Naturmagie“ greift wesentlich stärker auf religionsgeschichtliche Quellen der griechischen Philosophie zurück. Sie setzt auf die Kräfte der (göttlichen) Natur, die man nicht allein magisch nutzen, sondern vor allem auch empirisch weiter erforschen konnte. Schließlich wird sie dank des Buchdruckes einem viel größerem Publikum zugänglich. Es sind nicht mehr hauptsächlich klösterliche und höfische Kreise, die über Magie diskutieren, sondern auch Universitätsgelehrte, Privatleute und u.a. Mediziner.

Frühe Neuzeit: Magia naturalis

„Die Natur ist überall mit ihrer Zauberkraft“ (zit. in: Kieckhefer 1992: 170), so fasste der italienische Philosoph, Mediziner und Humanist Marsilio Ficino (1433-1499) seine Einsicht in die Magie zusammen. Ficino gehörte zur florentinischen Elite von Denkern im 15. Jahrhundert, der es darum ging, religiös-philosophische und magische Vorstellungen aus der Antike mit den Überzeugungen des Christentums zusammenzubringen. Als im Jahre 1463 das Corpus Hermeticum wiederentdeckt wurde – eine Sammlung von griechischen Traktaten, die mehrere Gelehrte niedergeschrieben hatten und das man ins dritte Jahrhundert u.Z. datiert – wurde Ficino von seinem Protegé Cosimo de‘ Medici damit beauftragt, dieses zu übersetzen. Es muss elektrisierend auf ihn gewirkt haben! Denn das Corpus Hermeticum hielt man für die direkte Offenbarung des griechisch-ägyptischen Gottes Hermes-Thot, auch Hermes Trismegistos genannt, der „dreimal größte Hermes“. Man schätzte, dass er älter als Moses war und das Corpus Hermeticum mithin Einblicke in eine Art Urwissen der Menschheit enthielt. Was für ein Fund! (Hanegraaff 1998: 390f.; Stuckrad 2004: 90).
Das präsentierte Wissen rekurrierte vor allem auf die Astrologie, Alchimie und Magie. Grundlegender Gedanke im Hermeticum war dabei, dass Makrokosmos und Mikrokosmos in einem harmonischen Verhältnis gegenseitiger Entsprechungen und Beeinflussungen zueinander standen.
Ficinos Auseinandersetzung mit dieser Schrift und die Begeisterung, die er dabei empfand, haben sein Verhältnis gerade zur Magie nachhaltig geprägt. Insbesondere seine Ausarbeitungen zur sogenannten natürlichen Magie können dabei zu den profiliertesten jener Zeit gehören (Yates 1964: 62-83, Daxelmüller 2001: 218-232). Über die Jahrhunderte mehrfach überformt, ist sie auch für das magische Verständnis der gegenwärtigen Hexen wichtig. Zugespitzt gesagt: die heutige „hexische“ Vorstellung und Praxis von Magie ist in der Basis eine naturmagische.
Ausgehend von dem Gedanken, dass der Kosmos von einer Kraft durchströmt wird die der Natur selbst angehört und auch den Menschen erfasst, bezeichnet die Naturmagie die Möglichkeit des Menschen, diese Kraft eingängig zu studieren und sich ihrer zu bedienen. Religion und (Natur)Wissenschaft treten hier auf das Engste zusammen – sie beziehen sich aufeinander mit dem Grundsatz, dass Magie der Wirkungsweise von Natur nie entgegenlaufen kann. Dabei gilt das Prinzip der Übertragung. Wenn also auf einen Punkt innerhalb der universellen Kraft eingewirkt wird und somit auf ein Element im allumspannenden Kosmos – egal wie schwach oder wie stark – so hat das Einfluss auf alle anderen Elemente (Stichwort „holografisches Universum“).
Das Erkunden der universellen Kraft oblag in der frühen Neuzeit den okkulten Wissenschaften – wie der Astrologie, Alchimie und eben Magie, womit sich vor allem die Gelehrten beschäftigten. Als okkult galten die Wissenschaften in mehrfacher Hinsicht. So befassten sich die Forschungen und Experimente, die betrieben wurden, mit Dingen, die kaum oder gar nicht sinnlich wahrnehmbar waren und mithin im Verborgenen wirkten (Kieckhefer 1992: 22).
Dabei beeilte man sich stets, die Naturmagie von einer „schwarzen“ Magie zu unterscheiden, um einer christlichen Verurteilung zu entgehen (Stuckrad 2004: 101). Im Christentum hatte Magie grundsätzlich etwas Anrüchiges. Man unterteilte jedoch in eine „schwarze“ Magie, die Schaden bewirkte und eine „weiße“ Magie, die den Menschen half sich von Leiden zu lösen. Man kann allerdings nicht genau sagen, wann die Metaphern „schwarz“/“weiß“ genau aufkamen – in der frühen Neuzeit sprach man meist von einer „dämonischen“ vs. „heilenden“ Magie.
Für die konkrete naturmagische Praxis stellten die Gelehrten eine Hierarchie magischer Instrumente auf – die fein säuberlich in geheimen Zauberbüchern, sogenannte Grimoires, notiert wurden. Die grob materiellen Dinge – wie Metalle und Steine – standen dabei weit unten, die rein-geistigen, immateriellen Werkzeuge – Worte, Denken und vor allem (orphische) Lieder – hingegen nahmen die oberste Position ein (Kieckhefer 1992: 170; Yates 1964: 67). Sie waren die entscheidendsten Mittel, um kosmische Kräfte zu lenken.
Diese Rangfolge stellte einen aufregenden Umbruch im abendländischen Magieverständnis dar. Denn von nun an galt ein Prinzip in besonderem Maße: „Magie … ereignet sich im Kopf“ (Daxelmüller 2001: 223).
Für heutige Hexen sind einzelne Elemente dieses naturmagischen Verständnisses besonders entscheidend, andere sind allerdings verworfen oder ummodelliert worden.

Es gilt für heutige Hexen weiterhin:

· Magie läuft der Natur nie entgegen. Sie kann erfolgreich die natürlichen Tendenzen eines Phänomens, eines Gegenstandes oder einer Situation verstärken (z.B. Samen aufgehen zu lassen) – aber wird keinesfalls bei Dingen helfen, die offensichtlich den Naturgesetzen entgegenlaufen (einen Menschen in eine Kröte verwandeln). Magie ist kein Garant für Beständigkeit – wie die Natur unterliegt alles der (zyklischen) Veränderung. Man kann also versuchen durch magische Handlungen einen Job zu bekommen – aber ob dieser von Dauer sein wird, ob er einem gefällt, ob er dauerhaft glücklich machen wird, ist nicht gewährleistet.
· Worte und Denken, die Imagination und der eigene Wille spielen in der Magie eine entscheidende Rolle. Was bei den Renaissance-MagierInnen „der Kopf“ und der „Geist“ war, ist für Hexen heute das „Bewusstsein“, das „innere Selbst“, „die Absicht, die der Energie den Weg weist“, wodurch Magie möglich wird.
· Zwischen einer „schwarzen“ und „weißen“ Magie wird schon lange nicht mehr unterschieden. Diese Einteilung gilt innerhalb der Hexenreligion als obsolet, gleichwohl sie außerhalb davon allgegenwärtig scheint. Denn wenn Magie letztlich durch das eigene Bewusstsein und die Intention bestimmt wird und also nichts von einem getrennt ist, dann kann es per se keine schwarze oder weiße Magie geben. Es gibt nur Menschen, die Magie Schaden bringend einsetzen. Hier kommt allerdings der naturmagische Gedanke der Übertragung ins Spiel. Danach gilt: Wenn auf einen Punkt innerhalb der universellen Kraft eingewirkt wird und somit auf ein Element im allumspannenden Kosmos – egal wie schwach oder wie stark – hat das Einfluss auf alle anderen Elemente. Betreibt man also Magie, um Schaden zu bewirken, kann das letztlich auch immer Auswirkungen auf einen selbst haben- wie? … ist nicht sicher … also Vorsicht!

Aufbruch in die „entzauberte“ (Post)Moderne –
Magia Naturalis, östliche Traditionen und die modernen Wissenschaften

Um die weitere Entwicklung von magischen Vorstellungen, wie sie heutige Hexen vertreten, nachzuvollziehen, muss man sich die großen Umbrüche in der Europäischen Religionsgeschichte in aller Kürze ins Gedächtnis rufen.
Also: im Zuge der Reformation und Gegenreformation wurden insbesondere im Protestantismus nicht-christliche – sogenannte heidnische – Traditionen und dabei auch Magie bekämpft, was zu ihrem massiven Rückgang führte. Dieser verstärkte sich in der Zeit der Aufklärung. Die „wissenschaftliche Revolution“, die sich abzuzeichnen begann, brachte schließlich jedweden Glauben an eine jenseitige Welt, an okkulte, göttliche Kräfte und Zauber in Bedrängnis.
In der Folge wurden Argumente, die sich gerade auch auf Magie beriefen, aus einer ernstzunehmenden Diskussion um die Wirkungsweise der Natur und den Fortgang der Geschichte verbannt. Die „Entzauberung der Welt“ – wie Max Weber diesen Prozess titulierte – schritt ab dem 18. Jahrhundert schnell und mächtig voran (Weber 1985 [1922¹]: 594).
Doch so grundsätzlich sich diese „Entzauberung“ darstellt und einen Wendepunkt in der europäischen Religionsgeschichte beschreibt, so kreierte sie eine nicht weniger bedeutsame Gegenbewegung: den Wunsch nämlich, die Vorstellung vom Wirken göttlicher Kräfte, den Glauben an Zauber und Wunder für das menschliche Dasein zu bewahren bzw. wieder herbei zu schaffen.
In der überkommenen Epocheneinteilung wird dieses Bestreben häufig unter dem Stichwort der Romantik subsumiert, eine Ära, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein datiert wird. Sie tritt stets als Antipodin gegenüber aufklärerischen Idealen auf. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die romantische Bewegung zwar mit der Aufklärung in weiten Teilen unvereinbar ist. Insofern kann sie als „revival of something old“, gesehen werden. Als solches wurde sie nur allzu oft geschmäht. „But it was a revival with a difference“, wie der Literaturwissenschaftler René Wellek bereits 1949 anmerkt und fortfährt: „these ideas were translated into terms acceptable to men who had undergone the experience of the Enlightenment“ (Wellek 1949: 171, zit. in: Hanegraaff 1998: 420, siehe auch: Hanegraaff 1998: 423). Und diese Ideen stehen denn auch – stellt man den Fokus schärfer – nicht immer konträr zu aufklärerischen Idealen, sondern erweisen sich oftmals als eine Synthese damit und dabei auch als ein erforderliches Korrektiv.
Dies trifft nun in besonderer Weise auf die ab dem 19. Jahrhundert entwickelten Magievorstellungen zu: sie stellen sich keineswegs gegen die Forderung der Herren Philosophen der Aufklärung, die Welt in empirisch gestützte Begrifflichkeiten zu fassen. Doch sie setzen auch und noch vielmehr auf den Mut zur Fantasie, für die das Prinzip der Ursächlichkeit wenig Relevanz hat. Es geht um überraschende Kombinationen, um Einzigartigkeit und Sinnlichkeit. Hierdurch aber wurden Dinge und Phänomene benannt und erfahrbar, die der abstrakten Begrifflichkeit allzu leicht entglitten und die doch bedeutsam waren. Sie zu berücksichtigen, machte aufklärerische Überzeugungen komplexer und reflexiver.
England stellt sich nun in jener Zeit als das magische Laboratorium dar. Das ist wohl kaum zufällig, denn im Britischen Empire – dieser großen, kolonialen Macht mit ihrem Manchester-Kapitalismus – verdichteten sich die Auswirkungen der Aufklärung und wissenschaftlichen Revolution und forderten in besonderer Weise zum Widerspruch und Überdenken heraus. Es entstehen dabei geheimgesellschaftliche Organisationen, die sich in so komplexer Form mit magischen Ideen beschäftigen, dass diese bis heute Einfluss haben. Die Kreativität und das intellektuelle Knowhow sind schlichtweg beeindruckend.
Wichtig sind hier vor allem die Societas Rosicruciana in Anglia, gegründet 1866, und The Hermetic Order of the Golden Dawn – eine Organisation, die aus der Societas 22 Jahre später hervor ging. Sie studierten erneut die Hermetik, beschäftigten sich mit der Kabbala, lasen die magischen Papyri aus der Antike. Sie entwickelten neue Tarotsets, deren Interpretationsweisen und Symboliken in ihrer Vielschichtigkeit kaum zu durchdringen sind. Einzelne Mitglieder holten die naturmagischen Schriften der Renaissance wieder hervor und übersetzten sie ins Englische. Sie sorgten so für ihre Verbreitung und diskutierten teilweise heftig darüber. Damit profilierten sie sich aber auch. Die aus dem 15. Jahrhundert stammende Idee, dass Magie vor allem auch eine Frage der Vorstellungskraft ist, wurde weiter ausbuchstabiert. Immer mehr galt Magie als eine Möglichkeit, einen „inneren Wandel“ zu ermöglichen – sich selbst zu erkennen und dadurch Veränderungen auch in der „äußeren“ Welt zu erreichen. Die magische Symbolwelt wurde in der Societas v.a. aber im Golden Dawn dabei durch neue und wiederbelebte Kombination zusammengesetzt und erweitert: magische Werkzeuge, in Verbindung mit Farben, Tarotkarten, Anrufungen, Zahlen und Worten u.v.m. (ausführlich: Hutton 1999, Otto 2011: 505-614; Gilbert 1983, King 1989, Howe 1972 Regardie 1984)
Bei Aleister Crowley findet der Zusammenhang von Magie und Selbsterkenntnis seine Zuspitzung, indem er letztlich deklariert: Magie ist die Fähigkeit, seinen wahren Willen zu erkennen und danach zu handeln. Von sogenannten wissenschaftlichen Ideen ist dies nur einen Katzensprung entfernt – die Psychoanalyse hat erstaunlich ähnliche Konzepte postuliert, wenngleich die Nomenklatur eine andere ist.
Schließlich interessierten sich die Mitglieder der Societas und des Golden Dawn für die aufkommende Theosophie Helena Blavatskys und griffen so auch östlich-asiatische Vorstellungen vermehrt auf. Ein entscheidender Punkt: Denn nun finden Ideen von Chakren, Tattwas, yogische und tantrischen Praktiken nachhaltig Eingang in Magievorstellungen. Dies stellte zugleich eine Kritik an damals virulenten wissenschaftlich-ethnologischen Theorien dar, wonach die magischen Weltvorstellungen des „Orients“ als „primitiv“ galten – als „Überlebsel“ der Menschheitsgeschichte, die es bald nicht mehr geben sollte (v.a. Tylor 1871).

Die Wirkmächtigkeit gerade auch des Golden Dawn auf eine Vielzahl (neu)religiöser Gruppierungen des 20. Jahrhunderts ist kaum zu unterschätzen.
Für die Hexenreligion und insbesondere für Reclaiming ist dabei ein zusätzlicher Aspekt entscheidend. In der gegenkulturellen Bewegung der 1960/1970er Jahre wird Magie auch immer stärker politisiert. Starhawk, eine der Mitbegründerung von Reclaiming bringt es so auf den Punkt: Magie ist: “the art if evoking power-from-within and using it to transform ourselves, our community, our culture, using it to resist the destruction that those who wield power are bringing upon the world“ (Starhawk 1982: xi, siehe auch: Hutton 1999: 345-261).
Aus dieser Tour de force durch die Geschichte der Magie im 19. Und 20. Jahrhundert lassen sich folgende Aspekte herausfiltern, die für heutige Hexen in ihrer magischen Praxis wichtig sind:
· Magie stellt sich nicht notwendig gegen aufklärerische Ideale: kausale Zusammenhänge, abstrakte Begrifflichkeiten werden anerkannt und sind für das Erkennen der Welt notwendig. Doch sie setzt zudem auf die Sinnlichkeit, Einzigartigkeit und auf das Prinzip der Entsprechungen. Sie entzieht sich einer „evolutionistischen“ Wertung von Weltsichten.
· Magie ist ein Mittel der Selbsterkenntnis. Sie ist eine Möglichkeit, seinen wahren Willen zu erkennen und danach sich selbst und die Welt zum Wohle aller Wesen zu formen.
· Nachhaltig und immer mehr werden in der Idee von Magie östliche Traditionen mit aufgegriffen: z.B. Chakren, Tattwas, yogische Praktiken, ayurvedische Vorstellungen.
· Magie trägt immer auch politischen Charakter. Als „power from within“ ermöglicht sie der Welt, in der wir leben, Alternativen zu offerieren, sie zu leben und durchzusetzen.


Literaturliste:

Daxelmüller, Christoph (2001). Zauberpraktiken. Die Ideengeschichte der Magie. Düsseldorf: Albatros.
Gilbert, R.A. (1983). The Golden Dawn. Twilight of the Magicians. Wellingborough, Northamptonshire: Aquarian Press.
Hanegraaff, Wouter J. (1996). New Age Religion and Western Culture: Esotericism in the Mirror of Secular Thought. Leiden, New York: Brill.
Howe, Ellic (1972). The Magicians of the Golden Dawn. A Documentary History of a Magical Order. London: Routledge and K. Paul King, Francis (1989). Modern Ritual Magic. The Rise of Western Occultism. Bridport: Prism.
Kieckhefer, Richard (1992). Magie im Mittelalter. München: C.H. Beck
Otto, Bernd Christian (2011). Magie: rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit. Berlin, New York: de Gruyter.
Regardie, Israel (1984). The Complete Golden Dawn System of Magic. Temple, Ariz., US: New Falcon Publications.
Starkhawk (1982). Dreaming the Dark: Magic, Sex and Politics. Boston, MA: Beacon.
Stuckrad, Kocku von (2004). Was ist Esoterik? Eine kleine Geschichte des geheimen Wissens. München: C.H. Beck.
Tylor, Edward B. (1871). Primitive Culture. Researches into the Mythology, Philosophy, Religoin, Language, Art and Custom in Two Volumes. London: Murray.
Weber, Max (1985) [1922¹]. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 6. Auflage. Tübingen: J.C.B. Mohr, 581-613.
Wellek, René (1949). The Concept of “Romanticism” in Literary History, in: Comparative Literature 1:1, 1-23; 147-172.
Yates, Francis A. (1964). Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. New York: Routledge.