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Der Junge, der den Soldaten küsste: Das Balata Lager

Doch niemand dringt in unsere Zufluchtsstätte in dieser Nacht. Wir reden und lachen mit den Frauen. Ich habe ein Tarot-Deck im Taschenformat dabei und wir lesen, was der nächste Tag bringen wird. Samar möchte eine Deutung und dann Hanin. Ich mag ganz und gar nicht, was ich in ihren Karten sehe: Tod, Verrat, schlaflose Nächte voll Kummer und Bedauern. Aber ich kann das sowieso nicht in Arabisch erklären, so betone ich das, was ich an Gutem sehe.

“Baby?” fragt Hanin.

“Ja, Babies,”

“Junge? Sohn?”

Die Karte der Sonne erscheint mit einem kleinen Jungen, der auf einem weißen Pferd reitet. „Ja, ich glaube es ist ein Junge,“ sage ich.

Sie zeigt mir das Bilder ihres ersten Babies, das im Alter von 1 ½ Jahren gestorben ist. Rings um uns schleichen Männer mit Gewehren herum, Häuser explodieren, Leben werden zerstört. Und wir sind in einer vertrauten Welt der Frauen. Hanin bürstet mein Haar, bindet es mit einem Band um seine Wildheit zu bändigen. Wir versuchen über unsere Leben zu sprechen.

Wir können unser Alter aufschreiben. Ich bin fünfzig, Hanin ist dreiundzwanzig. Jessica und Melissa sind zweiundzwanzig: alle sind älter als die meisten der Soldaten. Samar ist siebzehn, die Kinder sind acht und zehn, das Baby ist vier. Ich zeige ihnen Bilder meiner Familie, meinem Garten, meine Stiefenkelin. Ich vermute sie verstehen, dass mein Mann vier Töchter hat, doch ich keine eigene Tochter und dass ich seine dritte Frau bin. Ich bin nicht sicher, dass sie verstehen, dass diese Ehefrauen aufeinander folgen und nicht gleichzeitig da sind – aber vielleicht verstehen sie es auch. Die Frauen dieses Lagers sind gebildet, kultiviert, viele, die wir den Tag über trafen sind Akademikerinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Studentinnen wenn die Besatzung ihnen erlaubt zur Schule zu gehen.

Seid Ihr ChristInnen?” fragt Hanin uns schließlich zum Ende der Nacht. Melissa, Jessica und ich schauen einander an. Alle sind wir jüdisch und wir sind nicht sicher wie die Reaktion sein wird wenn wir es zugeben. Jessica spricht für uns: „Jüdisch,“ sagt sie. Die Frauen verstehen das Wort nicht. Wir versuchen verschiedene Möglichkeiten, sind aber schlißlich gezwungen das schonungslose und gefürchteten “Yahoud.” auszusprechen. „Yahoud“, sagt Hanin. Sie lacht überrascht auf, schaut die anderen Frauen an: „Wunderbar!“

Und das ist alles. Ihr Willkommen für uns ist unverändert. Sie zeigt mir die Dusche, kleidet mich in ihren eigenes geblümtes Nachthemd und den Morgenmantel und bringt mich zu Bett, zur leeren Seite des Doppelbettes, das sie mit ihrem Mann teilt, der von den Juden verhaftet wurde. Matten werden für die anderen ausgelegt. Zwei der Kinder schlafen bei uns. Ahmed, der kleine vierjährige Junge kuschelt sich an mich. Er schläft unruhig, tritt und schlägt in seinen Träumen und jedes Mal wenn eine Explosion kommt, wirft er sich in meine Arme.

Ich kann überhaupt nicht schlafen. Wie konnte ich hierher kommen, in einem Alter, in dem ich zu Hause bleiben, Pflaumenmarmelade kochen und Puppenkleider für die EnkelInnen nähen sollte, um einen kleinen palästinensischen Jungen zu wiegen, dessen Schlaf bereits von Gewehrschüssen und Granaten gestört wird? Ich denke über den Sommer nach, den ich in Israel verbrachte, als ich fünfzehn war, hebräisch lernte, im Kibbuz arbeitete, jede Gedenkstääte des Holocausts besuchte und jeden Ort der Schlachten, die wir Unabhängigkeitskrieg nannten. Ich denke an den einen Tag, an dem wir zur Grenze zwischen Israel und Libanon gebracht wurden. Die Israelische Seite war grün, die andere Seite unfruchtbar und braun. „Da seht ihr was wir aus diesem Land gemacht haben,“ sagte man uns. „und das haben sie in 2000 Jahren getan, Nichts.“

Ich bin jetzt alt genug um die große Anmaßung, die in diesen Worten steckt, zu hinterfragen, die Kolonisatoren schon immer gegen die Kolonisierten benutzt haben „Sie haben überhaupt nichts mit dem Land getan: sie haben es nicht genutzt.“ Sie haben sich irgendwie nicht so verdienstvoll gemacht wie wir, als vollständige Menschen. Sie sind Tiere, sie hassen uns.“

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